Zwei an einem Tag: Kluge Literatur fürs Herz

Es gibt Bücher, die erfreuen den Verstand. Und es gibt Bücher, die erfreuen das Herz. Zumindest mein Herz ist von David Nicholls‘ „Zwei an einem Tag“ mehr als verzückt. In dem Roman begleitet der Erzähler seine zwei Hauptfiguren über knapp 20 Jahre. Dexter und Emma verbringen die Nacht nach ihrer Uni-Abschlussfeier im Jahr 1988 miteinander, plaudern über sich und die Zukunft, unsicher und neckisch. Sie haben ein paar Ideale, Wünsche und Vorstellungen. Aber eigentlich wissen sie nicht, was die Zukunft bringt. Was sie bringt, erfährt der Leser in Jahres-Etappen. Immer wieder beleuchtet Nicholls den 15. Juli. Emma versucht sich – ohne großen Erfolg – in politischem Theater. Sie wird Lehrerin, später Schriftstellerin. Bei Dexter geht die Karriere früher los. Er geht in die Medien, wird Fernsehmoderator, nimmt Drogen, säuft, hat eine Affäre nach der nächsten und treibt durch Londons Nachtleben der 90er Jahre.

Trotz aller Unterschiede kommen die Beiden immer wieder zusammen. Man erfährt, was sie aneinander schätzen und warum sie trotzdem kein Paar werden – vorerst nicht. Sie streiten sich, sprechen Jahre nicht miteinander. Die Unterschiede und Enttäuschungen waren zu groß. Nicholls gelingt es ganz hervorragend, das Älterwerden einzufangen: Dexter, der mit Mitte 20 von der weiten Welt, schönen Frauen und dem Erfolg träumt, ständig feiert und sich nach Verbindlichkeit sehnt; der einige junge schöne Jahre in der aufregenden Welt der Medien erlebt, um mit 30 auf dem Abstellgleis einer Extreme-Sport-Sendung im Nachtprogramm zu landen und sich ins vermeintliche Eheglück incl. Kind zurückzieht, um am Ende ohne Frau und mit der Entfremdung zu seiner Tochter dazustehen – enttäuscht, wütend, einsam. Emma, die die Welt verbessern möchte und ihre Vorurteile gegenüber dem Oberschicht-Sprössling Dexter pflegt und dessen Vater als Faschisten beschimpft; die nach Jahren in schmuddeligen WG’s ihre Freude an schönen Möbeln findet; die ihre 90er mit einem Job in einem schmierigen Mexican Imbiss vergeudet und im neuen Jahrtausend die Erfolgsautorin einer Jugendbuch-Reihe wird, schicke Kleidung und Handtaschen trägt und nach Paris zieht.

In Paris finden sie zusammen. Nach all den Entbehrungen, Reibereien und Jahren einer spannungsreichen Freundschaft beginnt ihre gemeinsame, glückliche Zeit. Zu diesem Zeitpunkt kennen wir Dexters und Emmas mehr oder minder vernarbte Wunden. Nicholls hat sie uns so plastisch dargestellt, dass wir den Beiden das Glück so unendlich wünschen, wir uns für sie freuen. Die beiden haben es sich so verdient. Sie sind Umwege gegangen. Waren sie nicht von Anfang an füreinander bestimmt? Aber vielleicht waren es ja gerade die Umwege der Selbsterkenntnis, die die Mitdreißiger zunächst gehen mussten, um endlich da anzukommen, wo sie schon immer hinwollten. Doch selbst Ihr Glück hält nicht lang. Das Schicksal schlägt so grausam zu, dass es mir beim Lesen einen Schmerz versetzte. Glück ist zerbrechlich, gerade deshalb ist es so erstrebens- und beschützenswert. Und der Leser fragt sich, hätten sie doch früher zueinander finden sollen. Wären sie dann länger glücklich gewesen?

Nicholls‘ wunderbarer Roman macht durch den Kunstgriff, immer dasselbe Datum Jahr für Jahr zu schildern, eines so spielerisch deutlich: Jeder Tag ist wertvoll, und an jedem Tag – sei es uns nun bewusst oder nicht – fällen wir Entscheidungen für die Zukunft, für oder gegen etwas oder jemanden. Damit stellen wir die Weichen für morgen, den 16. Juli, das nächste Jahr, die nächsten zwei Jahrzehnte. Liebe und Freundschaft, die Höhen und Tiefen des Lebens von Menschen zwischen 20 und 40 entdeckt Nicholls sicher nicht neu, aber er beschreibt sie so liebevoll, humorvoll und klug, dass die Lektüre von „Zwei an einem Tag“ das Leben bereichert.

Die Hörbuchfassung (Hörbuch Hamburg) wird von Nina Petri und Andreas Fröhlich gelesen, denen es hervorragend gelingt die unterschiedlichen Perspektiven von Emma und Dexter, aber auch ihre Zuneigung zueinander auszudrücken. Gerade Andreas Fröhlich – bekannt als Bob Andrews aus den „Drei Fragezeichen“ – spricht den Dexter so vielschichtig und nahe am Menschen, dass man nicht anders kann als mitzufühlen. Leider ist die Lesung gekürzt, so dass einige Jahre fehlen. Sie bleibt aber dennoch stimmig,

Kollektiv-Bilder: „In keine Schublade stecken lassen“

Carsten Dethlefs (29) wendet sich entschieden gegen Kollektiv-Bilder, die über blinde Menschen in unserer Gesellschaft bestehen. In seinem aktuellen Buch gibt er Blinden- und Sehbehinderten-Einrichtungen eine Mitschuld an ihnen. In einem Interview spricht der selbst blinde Wissenschaftler über die Situation am Arbeitsmarkt, über Integration, den Kampf um das Blindengeld und über einen vergessenen US-Senator.

Carsten Dethlefs
Carsten Dethlefs

Heiko Kunert: Kürzlich haben die Leserinnen und Leser meines Blogs in einem Interview gelesen, welche Schwierigkeiten für blinde Menschen auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Auch Sie sind blind. Welchen Ausbildungs- und Berufsweg haben Sie bisher hinter sich?

Carsten Dethlefs: Ich habe nach meinem Abitur im Jahr 2000 an der Fachhochschule-Westküste ein Betriebswirtschaftsstudium aufgenommen und im Jahr 2004 erfolgreich abgeschlossen. Anschließend studierte ich Wirtschaftswissenschaften, teils berufsbegleitend an der Fernuniversität in Hagen. Dieses Studium habe ich 2009 erfolgreich abgeschlossen. Derzeit schreibe ich an meiner Doktorarbeit.

Kunert: Wir müssen also nicht in typischen „Blinden-Berufen“ landen. Was glauben Sie: Warum fällt es dennoch vielen Betroffenen schwer, einen regulären Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden?

Dethlefs: Die Situation ist zum Einen schwierig, weil die Blindenverbände es bisher versäumt haben, ausreichend über die technischen Arbeitsmöglichkeiten blinder Menschen aufzuklären. Es kommt noch hinzu, dass bei der Beschäftigung behinderter Menschen vile Sonderregelungen greifen, wie beispielsweise ein gesonderter Kündigungsschutz. Wenn man als Arbeitgeber also nicht weiß, wie leistungsstark blinde Menschen sein können, gleichzeitig die Gefahr besteht, einen behinderten Mitarbeiter eventuell nach dessen Einstellung nicht wieder los zu werden, muss man schon sehr mutig sein, um behinderte Menschen zu beschäftigen.

Kunert: Es gibt so ein Klischée: Blinde Menschen verbringen ihre Zeit vor allem mit anderen blinden Menschen. Trifft diese Annahme auf Sie zu?

Dethlefs: Nein, ich kenne zwar den ein oder anderen blinden Menschen, habe aber überwiegend Kontakt zu visuell nicht eingeschränkten Personen. Das halte ich auch für ganz normal. Allerdings habe ich es erlebt, dass, insbesondere in Blindeneinrichtungen, hier ganz anders gedacht wird. Da stelle ich mir immer die Frage, ob diese Einrichtungen an einer Integration tatsächlich interessiert sind. Gleichzeitig habe ich es erleb, dass mir diese Einrichtungen nicht sonderlich weitergeholfen haben, sondern die Herausforderungen des Lebens gemeinsam mit sehenden Menschen viel besser zu bewältigen sind.

Kunert: Über blinde Menschen gibt es viele weitere Vorurteile oder Annahmen. Herr Detlefs, Sie wenden sich entschieden gegen diese Kollektiv-Bilder. Warum?

Dethlefs: Diese Kollektiv-Bilder nehmen den blinden Menschen die Freiheit, sich wie jeder andere Mensch zu entfalten. Man ist ja nicht freiwillig physisch blind und muss, nach meiner Meinung, sich daher auch in keine durch Kollektiv-Bilder entstandene Schublade stecken lassen.

Kunert: Wie können diese Kollektiv-Bilder aus den Köpfen der sehenden Menschen verschwinden, und was können wir als blinde Menschen dazu beitragen?

Dethlefs: Blinde Menschen gehören vielmehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und zwar nicht als blinde Menschen, sondern als Menschen, die Dinge tun, wie jedr andere Mensch auch. Beispiele kann ich hier nicht geben, weil jeder Mensch halt unterschiedliche Interessen hat. Aber, man sollte die physische Blindheit nicht immer wie ein Schirm oder Schild mit sich herumtragen. Es gab Zeiten, da habe ich Tage lang nicht darüber nachgedacht, dass ich nichts sehen kann. Mein persönliches Umfeld war so gut auf meine Situation eingestellt, dass diese Gedanken gar nicht aufkamen.

Kunert: Sie kritisieren Blinden- und Sehbehinderten-Organisationen: Sie würden unnötig emotionalisieren und gern die Schwächsten vorschicken, so zum Beispiel beim Kampf um das Blindengeld. Was genau ´bemängeln Sie?

Dethlefs: Durch den Kampf um das Blindengeld wurde der Öffentlichkeit wieder ein Bild blinder Menschen vermittelt, wie es nicht jedem einzelnen dieser Zwangsgemeinschaft gerecht wird. Hätten blinde Menschen es bereits vorher geschafft, zu zeigen, wie vielschichtig diese Gruppe ist, hätte ich keine so heftige Kritik geübt. Wenn blinde Menschen aber nur in das öffentliche Bewusstsein treten, sobald ihnen etwas weggenommen wird, reagiere ich empfindlich. Ebenso würde es mir mit Gewerkschaften oder anderen Verbänden gehen. Der Unterschied ist nur, als blinder Mensch kann man nicht einfach aus der Gruppe blinder Menschen austreten, wie man es aber aus einer Gewerkschaft tun könnte.

Kunert: Ausführlichkönnen die Blind-PR-Leser Ihre Analyse in einem Buch nachlesen. Es heißt: „Eine wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Verhaltens von Zwangsgemeinschaften, positive und negative Wohlfahrtseffekte für deren Mitglieder, „yes, we can“ auch! Hinweise für einen konstruktiven Umgang mit persönlichen Einschränkungen“. Sie stellen hierin u. A. Thomas Pryor Gore vor. Wer war das, und was fasziniert Sie an ihm?

Dethlefs: Thomas Pryor gore war der erste blinde Senator in den USA. Fasziniernd ist, dass er dieses Amt ausgeübt hat, in einer Zeit, in der es noch keine technischen Hilfsmittel für blinde Menschen gab, nämlich Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhundert. Ich hatte, als ich ihn ausfindig machte, auch das Gefühl, das bei ihm immer die Person, der Mensch und nicht das Handicap im Vordergrund standen. Die zwischenmenschliche Hilfsbereitschaft muss auch sehr stark ausgeprägt gewesen sein. So sollte es eigentlich immer sein.

Carsten Dethlefs: Eine wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Verhaltens von Zwangsgemeinschaften, positive und negative Wohlfahrtseffekte für deren Mitglieder, „yes, we can“ auch! Hinweise für einen konstruktiven Umgang mit persönlichen Einschränkungen, Grin-Verlag 2009, ISBN-Nummer: 3-640-48417-7 13,99 Euro.

Schleswig-Holstein: Blindengeld vor dem Aus

Aus einer Kürzung wird schnell eine Streichung. Das gilt insbesondere für Sozialleistungen. War in Schleswig-Holstein zunächst eine 10-prozentige Reduzierung des Landesblindengeldes im Gespräch, legt die schwarz-gelbe Regierung nun nach. Sozialminister Heiner Garg (FDP) befürwortete gegenüber dem Blinden- und Sehbehindertenverein Schleswig-Holstein eine Streichung des Nachteilsausgleiches. Im Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern hatten seine liberalen Partei-Kollegen noch vehement gegen eine Kürzung gestritten. Es macht halt einen Unterschied, ob man in der Opposition oder in der Regierung ist. Die unsoziale Politik der Landesregierung stößt auf energischen Widerstand der Selbsthilfe-Organisationen. Protest-Aktionen werden geplant. Sehbehinderte und blinde Menschen aus Schleswig-Holstein und dem Umland können sich in eine Aktiven_Liste eintragen. Hierzu hinterlassen Sie einfach Ihre E-Mailadresse und Ihre Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter unter 0 45 22 / 764 92 66, oder Sie senden eine Mail mit Ihren Kontaktdaten an blindengeld@bsvsh.org.

Mehr Infos zum Thema gibt es auf der Homepage des Hamburger Blinden- und Sehbehindertenvereins.

Theater: Blinde Passagiere auf der Bühne und bei Youtube

Die blinden Passagiere treten wieder auf. Vom 8. bis 11. Juli können Sie das See-Musical der 50er Jahre auf dem Museumsschiff MS Bleichen und am 23. August in der Markthalle erleben. Zu den Vorstellungen auf der MS Bleichen werden Sie mit einer Barkasse von den Hamburger Landungsbrücken gebracht. Die Markthalle liegt direkt am Hauptbahnhof. Einen Trailer können Sie bei Youtube sehen:

Wer Lust auf Mehr hat, kann hier…

…hier…

…hier…

…und hier mehr sehen und hören:

Oder Sie kommen im Sommer zu unseren Vorstellungen. Ihr Kapitän würde sich freuen, Sie an Bord begrüßen zu dürfen.