Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat Deutschland 2009 ratifiziert. In ihr heißt es unter anderem:
Die Vertragsstaaten erkennen an „das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen […] Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.“
Was dort steht, ist inklusive Teilhabe! Aber… wo stehen wir in Deutschland und hier in Hamburg 14 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-BRK? Ist in den Häusern Inklusion schon Wirklichkeit?
Ich behaupte nein. Es gibt zwar eine Vielzahl von Projekten und wegweisende Angebote für bestimmte Zielgruppen, es besteht aber noch erheblicher Handlungsbedarf.
Barrieren auf Websites abbauen
Werfen wir einen Blick auf die Wirklichkeit für mich, einer von rund 2.300 blinden Menschen in Hamburg. Sagen wir, ich möchte eine Ausstellung besuchen und mich darüber auf der Internetseite des Museums informieren. Oftmals lauert hier schon die erste Hürde. Wenn die Seite nicht barrierefrei gestaltet ist, kann ich mich als Mensch, der einen Screenreader nutzt, nicht gut darauf zurechtfinden. Wenn bei der Erstellung einer Website nicht auf die Barrierefreiheit geachtet wird, liest mir meine Hilfstechnik die Seite von links oben nach rechts unten vor und ich kann nicht gut auf der Seite navigieren.
Sind Schaltflächen und Buttons nicht mit einem Alternativtext versehen, weiß ich nicht, was ich anklicke. Oft werden solche Buttons verwendet, um unter der Beschriftung „Mehr erfahren“ auf eine Unterseite mit mehr Informationen zu verlinken. Das „Mehr Erfahren“ wird mir aber nicht automatisch vorgelesen, wenn die Information nicht im CMS hinterlegt ist. Ich erfahre nur „Schaltfläche“. Darauf zu klicken ist eine sehr gute Möglichkeit, um sich auf einer Website zu verirren. Fies sind auch Bestell- oder Kontaktformulare, die ich ausfülle, um am Ende festzustellen, dass ich den Absenden- und den Verwerfen-Button nicht unterscheiden kann. Die Chance, dass ich den richtigen anklicke, ist 50%.
Auf Internetseiten von Museen sind häufig viele Bilder zu sehen. Macht Sinn. Nur: Ich habe keine Ahnung, was ich darauf nicht sehen kann, wenn keine Bildbeschreibungen hinterlegt sind. Für mich heißt die Information dann schlicht: Bild. Oder mir wird der Dateiname des Bildes vorgelesen. Zum Beispiel: „202310262413.jpg“.
Die Zugänglichkeit einer Internetseite für Menschen mit Seheinschränkungen ist komplexer. Denn auch Sehbehinderungen sind sehr unterschiedlich. Wir gehen derzeit von rund 40.000 Betroffenen hier in Hamburg aus. Diese Zahl wird aufgrund der demografischen Entwicklung stetig steigen. Dies ist eine wachsende Zielgruppe. Sollten das Menschen sein, die gerne Museen besucht haben und dann durch eine altersbedingte Augenerkrankung von einem Sehverlust betroffen sind, sind dies vielleicht treue Besucherinnen und Besucher, die die Häuser verlieren.
Ich greife für diese Gruppe einmal zwei besonders wichtige Aspekte heraus, wenn es um die Nutzung von Internetseiten geht. Eine Kontrastreiche, klare Gestaltung bietet den Betroffenen mehr Raum, sich auf einer Seite zu orientieren und die Texte zu lesen. Graue Schrift auf hellgrauem Grund sieht vielleicht gut aus. Aber wer würde behaupten, dass es die Leserlichkeit verbessert. Vermeiden sollte man zum Beispiel auch, Schrift auf Bilder zu legen.
Infos für Menschen mit Behinderung auf die Website stellen
Ich bin nun also als behinderter Mensch auf einer Internetseite und kann mich im Idealfall auch zurechtfinden. Dann interessieren mich vor allem zwei Dinge: Ich will mehr über die Ausstellungen erfahren. Und ich möchte wissen, ob es Angebote für mich als Mensch mit Behinderung gibt. Kurz gesagt: Lohnt sich für mich ein Besuch? Sinnvoll ist also ein Bereich auf der Website, in dem sich Menschen mit Behinderung darüber informieren können, welche barrierefreien Angebote das Museum hat.
Nehmen wir einmal an: Es gibt eine interessante Ausstellung und zu allen Exponaten auch eine Audiobeschreibung vor Ort. Großartig! Heute habe ich Zeit, heute gehe ich ins Museum! Oder nicht?
Finde ich das Haus selbstständig oder muss ich erst einmal eine sehende Begleitperson finden und einen Termin vereinbaren? Damit wäre ein spontaner Besuch also ausgeschlossen. Super aber, wenn es ein Leitsystem zum Eingang gibt oder eine Wegbeschreibung auf der Internetseite mit Orientierungspunkten für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher. Auch das gehört dazu, dass ich mich, wie jede andere Person allein und spontan zu einem Museumsbesuch entschließen kann.
Barrieren im Gebäude abbauen
Nun bin ich also im Museum. Und ich freue mich auf die Ausstellung. Stellt sich als nächstes die Frage, wie barrierefrei ist das Gebäude? Gibt es ein Leitsystem im Haus? Sind die Treppenstufen markiert, damit Menschen mit Seheinschränkung sie besser erkennen? Gibt es ansonsten kontrastreiche Orientierungspunkte, hinreichend große Beschilderung für sehbehinderte Menschen, Blindenschrift und Ansagen im Aufzug? Sind die Kunstwerke so angeordnet, dass sie meine Wege blockieren und ein Verletzungsrisiko für mich sind oder ich sie versehentlich beschädigen kann?
Ausstellungen barrierefrei gestalten
Die Hürden für sehbehinderte und blinde Menschen sind vielfältig. Aber ich bleibe tapfer und kämpfe mich weiter – heute möchte ich Kunst, Kultur, Geschichte erleben – und stoße auf die nächsten Fragen:
- Erschließen sich die Exponate?
- Kann ich zum Beispiel etwas betasten?
- Finde ich Informationen zu den Kunstwerken in einer für mich zugänglichen Form, also eine Beschreibung des Werks in Brailleschrift oder im Audioformat?
Blinde und sehbehinderte Menschen stoßen beim Zugang zu kulturellen Angeboten in Museen auf sehr viele Barrieren. Ich denke, nur die wenigsten Personen kämpfen sich über alle diese Hürden. Viele geben sicher irgendwo auf der Strecke entnervt auf.
Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass Museen behinderte Menschen bewusst ausschließen wollen. Ich glaube allerdings schon, dass die Anforderungen an eine Zugänglichkeit für Alle von vielen Verantwortlichen in den Häuser noch als Erschwernis empfunden werden. Das betrifft sowohl die personellen als auch die finanziellen Ressourcen. Dieser „Erschwernis“ sollten wir uns aber zwangsläufig stellen, wenn wir die UN-BRK ernst nehmen und Menschen mit Behinderung als Zielgruppe erreichen wollen.
Barrieren überwindet man, indem man sich auf den Weg macht. Und der erste Schritt dabei ist, ganz einfach: Anfangen!
Ein erster Schritt kann sein, die Website barrierefrei zu gestalten, oder eine Wegbeschreibung zu erstellen, damit blinde und sehbehinderte Menschen das Museum selbstständig erreichen können. Das Gespräch mit den Kuratorinnen und Kuratoren ist wichtig, um bei der Planung einer Ausstellung gleich mitzudenken, wie man die Inhalte auch an Menschen mit Behinderungen vermitteln kann. Sinnvoll sind Beschreibungen der Werke als Hörfassungen. Etwas aufwendiger, aber natürlich großartig sind Tastmodelle von Exponaten, die im Original nicht angefasst werden dürfen, oder die Möglichkeit von Ausnahmeregelungen für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher, dass die solche Ausstellungsstücke eben doch anfassen dürfen. Es können ausgewählte Bilder und Fotos als fühlbares Relief umgesetzt werden. Es können speziell auf unterschiedliche Zielgruppen ausgerichtete Führungen angeboten werden, so eben auch für blinde und sehbehinderte Menschen, bei denen entsprechend mehr beschrieben wird als bei einer „normalen“ Führung.
Menschen mit Behinderung spontane Besuche ermöglichen
Aber was ich ebenso wichtig finde: Wenn ich z. B. als blinder Mensch (vielleicht dann auch in sehender Begleitung) Urlaub mache und spontan in einem Museum lande, möchte ich auch etwas für mich finden. Meine Frau und ich waren im Oktober in Barcelona. Und dass ich zum Beispiel in der berühmten Kirche Sagrada Familia in der App einen Audioguide für blinde und sehbehinderte Menschen gefunden habe, hat mich sehr gefreut. In diesem wurde auf Dinge hingewiesen, die sich zum Ertasten eignen. Es wurde mehr beschrieben, was zu sehen ist usw. Es gab in der Kirche auch einen Tastplan zur besseren Orientierung im Innenraum. Oder im Katalanischen Nationalmuseum gab es vereinzelt zu ausgestellten Bildern und anderen Exponaten Tastmodelle, versehen mit Blindenschrift und der Möglichkeit über Kopfhörer Infos zum Werk zu erhalten. Es gibt also viele Möglichkeiten, Barrieren abzubauen.
Menschen mit Behinderung in Planung einbeziehen
Bei all diesen Schritten sollten die Kultureinrichtungen immer auch Menschen mit Behinderung einbeziehen, zum Beispiel über deren Selbsthilfeorganisationen. So haben wir bei uns im Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) einen „Arbeitskreis Kultur“. Die Mitglieder dieser Gruppe sind kulturinteressierte Betroffene, also Expertinnen und Experten in eigener Sache. In den letzten Monaten hat diese engagierte Gruppe ehrenamtlich viele Kulturstätten dabei unterstützt, zugänglicher für Menschen mit Seheinschränkung zu werden. Mit richtig großartigen Ergebnissen!
Auch wenn es darum geht, digitale Kanäle barrierefrei zu gestalten oder erst einmal zu prüfen, ob und wo Barrieren bestehen, kann die Selbsthilfe die passenden Spezialistinnen und Spezialisten vermitteln. So berät unser Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg sowohl zur digitalen Barrierefreiheit als auch zu allen Fragen der baulichen Gestaltung.
Neues ausprobieren
Manchmal entstehen barrierefreie Angebote aber auch, indem man einfach mal was ausprobiert. Genau so ist im Lockdown des ersten Corona-Jahrs gemeinsam mit Mathias Knigge von Grauwert, dem Büro für demografiefeste Lösungen, einigen Museen und Kunstvermittelnden in Hamburg, das Projekt „Bei Anruf Kultur“ entstanden. Wir haben da mal was ausprobiert.
„Bei Anruf Kultur“ lädt Menschen ein, am Telefon Ausstellungen zu erleben. Ein professioneller Guide aus dem jeweiligen Haus führt eine Stunde lang telefonisch durch eine Ausstellung. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben zweimal die Gelegenheit, Fragen zu stellen und sich zu dem gehörten auszutauschen.
Das Format ist einfach: einfach verständlich, einfach umsetzbar, und einfach für die Teilnehmenden.
Ich denke, dass ist der Grund, warum alle Beteiligten sofort davon begeistert waren und unbedingt weitermachen wollten. Auch die Verantwortlichen in der Hamburger Behörde für Kultur und Medien, dem Fond Kultur für Alle und bei der Stiftung Kulturglück haben das Potential gleich erkannt und uns unterstützt.
Im Programm sind inzwischen Museen, Gedenkstätten und Sammlungen auch über die Grenzen Hamburgs hinaus. In den vergangenen drei Jahren hatten wir Führungen in 30 unterschiedlichen Häusern.
In den nächsten drei Jahren dürfen wir nun dank einer zusätzlichen Förderung der Aktion Mensch und gemeinsam mit Mathias Knigge das Projekt bundesweit weiterentwickeln. Wir bieten Menschen einen Zugang zu Kultur, die bei der Vermittlung bisher kaum oder gar nicht berücksichtigt werden:
- Blinde und sehbehinderte Menschen
- Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie Angsterkrankungen
- Menschen die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Zum Beispiel, weil sie nicht mehr gut längere Zeit laufen können. Oder weil Sie in einer Pflegeeinrichtung leben.
Konsequente Umsetzung eines Menschenrechts
Eines möchte ich abschließend betonen. Der Weg von der aktuellen Wirklichkeit hin zu einer inklusiven Museumslandschaft mag zwar noch sehr lang sein. Aber er muss konsequent beschritten werden. Nicht nur, weil ein Paragraf es vorschreibt, sondern weil es eine Selbstverständlichkeit für unsere vielfältige, moderne Gesellschaft sein muss, dass ich als blinder Mensch und alle anderen Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt ein Museum besuchen oder an anderen kulturellen Angeboten teilhaben können. Wir reden hier von einem elementaren Menschenrecht. Und, übrigens, mehr Offenheit, mehr Vielfalt ist auch eine Bereicherung für die Häuser und die dort Mitarbeitenden.
Die Mitarbeitenden selbst sollten im Übrigen auch die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden. Unter blinden Menschen liegt die Beschäftigungsquote auf dem ersten Arbeitsmarkt bei unter 30%. Überall hören wir vom Fachkräftemangel. Aber Arbeitssuchende mit Behinderung erhalten immer noch viel zu selten eine berufliche Chance. Auch hier ist Inklusion das Ziel, das endlich ernsthaft angegangen werden muss.
(Grundlage dieses Textes ist mein Vortrag, den ich am 26. Oktober 2023 bei der wissenschaftlichen Tagung „Perspektivwechsel – Sehbehinderung und Blindheit im Museum“ in der Hamburger Kunsthalle gehalten habe.)