Inklusion und Wirklichkeit im Museum: wo die Teilhabe von Menschen mit Seheinschränkung auf Barrieren stößt

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat Deutschland 2009 ratifiziert. In ihr heißt es unter anderem:

Die Vertragsstaaten erkennen an „das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen […] Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.“

Was dort steht, ist inklusive Teilhabe! Aber… wo stehen wir in Deutschland und hier in Hamburg 14 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-BRK? Ist in den Häusern Inklusion schon Wirklichkeit?

Ich behaupte nein. Es gibt zwar eine Vielzahl von Projekten und wegweisende Angebote für bestimmte Zielgruppen, es besteht aber noch erheblicher Handlungsbedarf.

Barrieren auf Websites abbauen

Werfen wir einen Blick auf die Wirklichkeit für mich, einer von rund 2.300 blinden Menschen in Hamburg. Sagen wir, ich möchte eine Ausstellung besuchen und mich darüber auf der Internetseite des Museums informieren. Oftmals lauert hier schon die erste Hürde. Wenn die Seite nicht barrierefrei gestaltet ist, kann ich mich als Mensch, der einen Screenreader nutzt, nicht gut darauf zurechtfinden. Wenn bei der Erstellung einer Website nicht auf die Barrierefreiheit geachtet wird, liest mir meine Hilfstechnik die Seite von links oben nach rechts unten vor und ich kann nicht gut auf der Seite navigieren.

Sind Schaltflächen und Buttons nicht mit einem Alternativtext versehen, weiß ich nicht, was ich anklicke. Oft werden solche Buttons verwendet, um unter der Beschriftung „Mehr erfahren“ auf eine Unterseite mit mehr Informationen zu verlinken. Das „Mehr Erfahren“ wird mir aber nicht automatisch vorgelesen, wenn die Information nicht im CMS hinterlegt ist. Ich erfahre nur „Schaltfläche“. Darauf zu klicken ist eine sehr gute Möglichkeit, um sich auf einer Website zu verirren. Fies sind auch Bestell- oder Kontaktformulare, die ich ausfülle, um am Ende festzustellen, dass ich den Absenden- und den Verwerfen-Button nicht unterscheiden kann. Die Chance, dass ich den richtigen anklicke, ist 50%.

Auf Internetseiten von Museen sind häufig viele Bilder zu sehen. Macht Sinn. Nur: Ich habe keine Ahnung, was ich darauf nicht sehen kann, wenn keine Bildbeschreibungen hinterlegt sind. Für mich heißt die Information dann schlicht: Bild. Oder mir wird der Dateiname des Bildes vorgelesen. Zum Beispiel: „202310262413.jpg“.

Die Zugänglichkeit einer Internetseite für Menschen mit Seheinschränkungen ist komplexer. Denn auch Sehbehinderungen sind sehr unterschiedlich. Wir gehen derzeit von rund 40.000 Betroffenen hier in Hamburg aus. Diese Zahl wird aufgrund der demografischen Entwicklung stetig steigen. Dies ist eine wachsende Zielgruppe. Sollten das Menschen sein, die gerne Museen besucht haben und dann durch eine altersbedingte Augenerkrankung von einem Sehverlust betroffen sind, sind dies vielleicht treue Besucherinnen und Besucher, die die Häuser verlieren.

Ich greife für diese Gruppe einmal zwei besonders wichtige Aspekte heraus, wenn es um die Nutzung von Internetseiten geht. Eine Kontrastreiche, klare Gestaltung bietet den Betroffenen mehr Raum, sich auf einer Seite zu orientieren und die Texte zu lesen. Graue Schrift auf hellgrauem Grund sieht vielleicht gut aus. Aber wer würde behaupten, dass es die Leserlichkeit verbessert. Vermeiden sollte man zum Beispiel auch, Schrift auf Bilder zu legen.

Infos für Menschen mit Behinderung auf die Website stellen

Ich bin nun also als behinderter Mensch auf einer Internetseite und kann mich im Idealfall auch zurechtfinden. Dann interessieren mich vor allem zwei Dinge: Ich will mehr über die Ausstellungen erfahren. Und ich möchte wissen, ob es Angebote für mich als Mensch mit Behinderung gibt. Kurz gesagt: Lohnt sich für mich ein Besuch? Sinnvoll ist also ein Bereich auf der Website, in dem sich Menschen mit Behinderung darüber informieren können, welche barrierefreien Angebote das Museum hat.

Nehmen wir einmal an: Es gibt eine interessante Ausstellung und zu allen Exponaten auch eine Audiobeschreibung vor Ort. Großartig! Heute habe ich Zeit, heute gehe ich ins Museum! Oder nicht?

Finde ich das Haus selbstständig oder muss ich erst einmal eine sehende Begleitperson finden und einen Termin vereinbaren? Damit wäre ein spontaner Besuch also ausgeschlossen. Super aber, wenn es ein Leitsystem zum Eingang gibt oder eine Wegbeschreibung auf der Internetseite mit Orientierungspunkten für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher. Auch das gehört dazu, dass ich mich, wie jede andere Person allein und spontan zu einem Museumsbesuch entschließen kann.

Barrieren im Gebäude abbauen

Nun bin ich also im Museum. Und ich freue mich auf die Ausstellung. Stellt sich als nächstes die Frage, wie barrierefrei ist das Gebäude? Gibt es ein Leitsystem im Haus? Sind die Treppenstufen markiert, damit Menschen mit Seheinschränkung sie besser erkennen? Gibt es ansonsten kontrastreiche Orientierungspunkte, hinreichend große Beschilderung für sehbehinderte Menschen, Blindenschrift und Ansagen im Aufzug? Sind die Kunstwerke so angeordnet, dass sie meine Wege blockieren und ein Verletzungsrisiko für mich sind oder ich sie versehentlich beschädigen kann?

Ausstellungen barrierefrei gestalten

Die Hürden für sehbehinderte und blinde Menschen sind vielfältig. Aber ich bleibe tapfer und kämpfe mich weiter – heute möchte ich Kunst, Kultur, Geschichte erleben – und stoße auf die nächsten Fragen:

  • Erschließen sich die Exponate?
  • Kann ich zum Beispiel etwas betasten?
  • Finde ich Informationen zu den Kunstwerken in einer für mich zugänglichen Form, also eine Beschreibung des Werks in Brailleschrift oder im Audioformat?

Blinde und sehbehinderte Menschen stoßen beim Zugang zu kulturellen Angeboten in Museen auf sehr viele Barrieren. Ich denke, nur die wenigsten Personen kämpfen sich über alle diese Hürden. Viele geben sicher irgendwo auf der Strecke entnervt auf.

Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass Museen behinderte Menschen bewusst ausschließen wollen. Ich glaube allerdings schon, dass die Anforderungen an eine Zugänglichkeit für Alle von vielen Verantwortlichen in den Häuser noch als Erschwernis empfunden werden. Das betrifft sowohl die personellen als auch die finanziellen Ressourcen. Dieser „Erschwernis“ sollten wir uns aber zwangsläufig stellen, wenn wir die UN-BRK ernst nehmen und Menschen mit Behinderung als Zielgruppe erreichen wollen.

Barrieren überwindet man, indem man sich auf den Weg macht. Und der erste Schritt dabei ist, ganz einfach: Anfangen!

Ein erster Schritt kann sein, die Website barrierefrei zu gestalten, oder eine Wegbeschreibung zu erstellen, damit blinde und sehbehinderte Menschen das Museum selbstständig erreichen können. Das Gespräch mit den Kuratorinnen und Kuratoren ist wichtig, um bei der Planung einer Ausstellung gleich mitzudenken, wie man die Inhalte auch an Menschen mit Behinderungen vermitteln kann. Sinnvoll sind Beschreibungen der Werke als Hörfassungen. Etwas aufwendiger, aber natürlich großartig sind Tastmodelle von Exponaten, die im Original nicht angefasst werden dürfen, oder die Möglichkeit von Ausnahmeregelungen für blinde und sehbehinderte Besucherinnen und Besucher, dass die solche Ausstellungsstücke eben doch anfassen dürfen. Es können ausgewählte Bilder und Fotos als fühlbares Relief umgesetzt werden. Es können speziell auf unterschiedliche Zielgruppen ausgerichtete Führungen angeboten werden, so eben auch für blinde und sehbehinderte Menschen, bei denen entsprechend mehr beschrieben wird als bei einer „normalen“ Führung.

Menschen mit Behinderung spontane Besuche ermöglichen

Aber was ich ebenso wichtig finde: Wenn ich z. B. als blinder Mensch (vielleicht dann auch in sehender Begleitung) Urlaub mache und spontan in einem Museum lande, möchte ich auch etwas für mich finden. Meine Frau und ich waren im Oktober in Barcelona. Und dass ich zum Beispiel in der berühmten Kirche Sagrada Familia in der App einen Audioguide für blinde und sehbehinderte Menschen gefunden habe, hat mich sehr gefreut. In diesem wurde auf Dinge hingewiesen, die sich zum Ertasten eignen. Es wurde mehr beschrieben, was zu sehen ist usw. Es gab in der Kirche auch einen Tastplan zur besseren Orientierung im Innenraum. Oder im Katalanischen Nationalmuseum gab es vereinzelt zu ausgestellten Bildern und anderen Exponaten Tastmodelle, versehen mit Blindenschrift und der Möglichkeit über Kopfhörer Infos zum Werk zu erhalten. Es gibt also viele Möglichkeiten, Barrieren abzubauen.

Menschen mit Behinderung in Planung einbeziehen

Bei all diesen Schritten sollten die Kultureinrichtungen immer auch Menschen mit Behinderung einbeziehen, zum Beispiel über deren Selbsthilfeorganisationen. So haben wir bei uns im Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) einen „Arbeitskreis Kultur“. Die Mitglieder dieser Gruppe sind kulturinteressierte Betroffene, also Expertinnen und Experten in eigener Sache. In den letzten Monaten hat diese engagierte Gruppe ehrenamtlich viele Kulturstätten dabei unterstützt, zugänglicher für Menschen mit Seheinschränkung zu werden. Mit richtig großartigen Ergebnissen!

Auch wenn es darum geht, digitale Kanäle barrierefrei zu gestalten oder erst einmal zu prüfen, ob und wo Barrieren bestehen, kann die Selbsthilfe die passenden Spezialistinnen und Spezialisten vermitteln. So berät unser Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg sowohl zur digitalen Barrierefreiheit als auch zu allen Fragen der baulichen Gestaltung.

Neues ausprobieren

Manchmal entstehen barrierefreie Angebote aber auch, indem man einfach mal was ausprobiert. Genau so ist im Lockdown des ersten Corona-Jahrs gemeinsam mit Mathias Knigge von Grauwert, dem Büro für demografiefeste Lösungen, einigen Museen und Kunstvermittelnden in Hamburg, das Projekt „Bei Anruf Kultur“ entstanden. Wir haben da mal was ausprobiert.

„Bei Anruf Kultur“ lädt Menschen ein, am Telefon Ausstellungen zu erleben. Ein professioneller Guide aus dem jeweiligen Haus führt eine Stunde lang telefonisch durch eine Ausstellung. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben zweimal die Gelegenheit, Fragen zu stellen und sich zu dem gehörten auszutauschen.

Das Format ist einfach: einfach verständlich, einfach umsetzbar, und einfach für die Teilnehmenden.

Ich denke, dass ist der Grund, warum alle Beteiligten sofort davon begeistert waren und unbedingt weitermachen wollten. Auch die Verantwortlichen in der Hamburger Behörde für Kultur und Medien, dem Fond Kultur für Alle und bei der Stiftung Kulturglück haben das Potential gleich erkannt und uns unterstützt.

Im Programm sind inzwischen Museen, Gedenkstätten und Sammlungen auch über die Grenzen Hamburgs hinaus. In den vergangenen drei Jahren hatten wir Führungen in 30 unterschiedlichen Häusern.

In den nächsten drei Jahren dürfen wir nun dank einer zusätzlichen Förderung der Aktion Mensch und gemeinsam mit Mathias Knigge das Projekt bundesweit weiterentwickeln. Wir bieten Menschen einen Zugang zu Kultur, die bei der Vermittlung bisher kaum oder gar nicht berücksichtigt werden:

  • Blinde und sehbehinderte Menschen
  • Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie Angsterkrankungen
  • Menschen die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Zum Beispiel, weil sie nicht mehr gut längere Zeit laufen können. Oder weil Sie in einer Pflegeeinrichtung leben.

Konsequente Umsetzung eines Menschenrechts

Eines möchte ich abschließend betonen. Der Weg von der aktuellen Wirklichkeit hin zu einer inklusiven Museumslandschaft mag zwar noch sehr lang sein. Aber er muss konsequent beschritten werden. Nicht nur, weil ein Paragraf es vorschreibt, sondern weil es eine Selbstverständlichkeit für unsere vielfältige, moderne Gesellschaft sein muss, dass ich als blinder Mensch und alle anderen Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt ein Museum besuchen oder an anderen kulturellen Angeboten teilhaben können. Wir reden hier von einem elementaren Menschenrecht. Und, übrigens, mehr Offenheit, mehr Vielfalt ist auch eine Bereicherung für die Häuser und die dort Mitarbeitenden.

Die Mitarbeitenden selbst sollten im Übrigen auch die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden. Unter blinden Menschen liegt die Beschäftigungsquote auf dem ersten Arbeitsmarkt bei unter 30%. Überall hören wir vom Fachkräftemangel. Aber Arbeitssuchende mit Behinderung erhalten immer noch viel zu selten eine berufliche Chance. Auch hier ist Inklusion das Ziel, das endlich ernsthaft angegangen werden muss.

(Grundlage dieses Textes ist mein Vortrag, den ich am 26. Oktober 2023 bei der wissenschaftlichen Tagung „Perspektivwechsel – Sehbehinderung und Blindheit im Museum“ in der Hamburger Kunsthalle gehalten habe.)

PR und Behinderung: Alle haben ein Recht auf Inklusion

Das Fachmagazin Pressesprecher hat mich interviewt. Im Gespräch mit Carolin Sachse-Henninger berichte ich, wie ich einst in die PR-Branche geraten bin, warum es bis heute so wenige Öffentlichkeitsarbeiter*innen mit Behinderung gibt und was ich mir von Medien und PR im Umgang mit dem Thema Behinderung wünsche. Ihr findet das Interview auf der Pressesprecher-Website.

Diskriminiert das Gender-Sternchen blinde Menschen?

Blinde Menschen wie ich schreiben und lesen Word- und PDF-Dokumente. Wir arbeiten mit E-Mail-Programmen. Und wir surfen im Netz. Die Meisten von uns nutzen hierzu eine synthetische Sprachausgabe, die uns den Bildschirminhalt vorliest. Besondere Programme, so genannte Screenreader, wandeln das, was sehende User*innen visuell wahrnehmen, so um, dass es in Sprache ausgegeben werden kann. Das klappt in der Regel sehr gut. Allerdings gibt es immer mal wieder auch Wörter, die von der einen oder anderen Sprachausgabe falsch wiedergegeben werden. Da wird die Jahreszahl 1979 von Apples Sprachausgabe immer englisch ausgesprochen, selbst in deutschsprachigen Texten, oder das Wort Update wird seit dem Update auf iOS 14 einfach komplett weggelassen. Das sind natürlich Fehler, die sich eingeschlichen haben und die hoffentlich irgendwann von Herstellerseite repariert werden. Diesen Wunsch haben sicherlich alle blinden Nutzer*innen.

Weniger einheitlich fällt das Urteil der Blinden-Community allerdings beim Gendern aus. Insbesondere an Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt und Co. scheiden sich die Geister. Der Grund: Die Sprachausgaben lesen gegenderte Wörter zum Teil in einer verwirrenden Art und Weise vor. So wird Mitarbeiter*innen in den meisten Standardeinstellungen als „Mitarbeiter Stern innen“ vorgelesen. Die Variante mit dem Unterstrich oft als „Mitarbeiter Unterstrich innen“. Der Doppelpunkt wiederum wird zumeist in den Standardeinstellungen der Screenreader nicht als Satzzeichen vorgelesen, so dass die Sprachausgabe „Mitarbeiter innen“ vorliest. Letzteres kommt der – sich zunehmend auch in Radio und TV etablierenden – Aussprache schon recht nahe, allerdings fällt die Pause, die die Sprachausgabe hier macht recht lang aus, so dass beim Zuhören der Eindruck entsteht, ein Satz sei zu Ende.

Während also der Doppelpunkt beim Zuhören irritieren kann, tun dies Varianten, bei denen das Satzzeichen vorgelesen wird, auch. Gerade User*innen, die nicht so viel am Computer oder Smartphone hängen, sind unter Umständen sehr iiritiert, wenn unvermittelt das Wort Unterstrich oder Stern an einer Stelle auftaucht, an der Mensch damit nicht rechnet. Die Irritation kann so groß sein, dass der Lesefluss so stark unterbrochen wird, dass der nächste Halbsatz – die Sprachausgabe liest schließlich unerbittlich weiter – kognitiv nicht verarbeitet werden kann.

Immer mal wieder lese ich in den sozialen Medien Empfehlungen blinder Menschen. Mal wird da der Doppelpunkt empfohlen, weil die gesprochene Lücke doch ganz gut sei. Dann wieder kommt der Unterstrich um die Ecke, weil dieser bei aktuellen Screenreadern angeblich meist nicht mitgelesen würde usw. Ein Problem hierbei: Auch unter blinden Menschen sind Geschmäcker verschieden. Außerdem benutzen wir unterschiedliche Screenreader. Und jeder Screenreader hat seine Eigenheiten. VoiceOver liest Wörter anders vor als JAWS oder NVDA. Und dann gibt es noch unterschiedliche Versionen. Gerade bei den hohen Preisen kommerzieller Screenreader haben wir nicht immer die aktuellste Version auf dem Rechner. Und schließlich gibt es häufig auch noch sehr ausdifferenzierte Einstellungsmöglichkeiten in der Screenreader-Software. So kann ich als Nutzer von JAWS zum Beispiel einstellen, wie viele und welche Satzzeichen mir angesagt werden oder eben auch nicht. Insofern kann der gegenderte Text bei dem einen blinden Nutzer ganz anders klingen als bei einer anderen Nutzerin. Hieraus allgemeingültige Empfehlungen abzuleiten, ist schwierig.

Vor diesem Hintergrund haben die im Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) organisierten Landesvereine – darunter auch der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg, dessen Geschäftsführer ich bin – Anfang 2019 eine Empfehlung verabschiedet, nach der möglichst auf Binnen-I, Sternchen und Co. zu verzichten ist. Auf der DBSV-Website heißt es zum männlich/weiblichen Gendern:

Damit klar wird, wie ein Text von einer Assistenz oder einem Screenreader vorgelesen werden soll, sollen Personenbezeichnungen ausformuliert werden (Beispiel: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). Gendern durch Sonderzeichen und Typografie (…) ist nicht zu empfehlen. Weil ausformulierte Personenbezeichnungen vor allem bei häufigen Wiederholungen innerhalb eines Textes als störend empfunden werden können, bemühen wir uns, Textlösungen zu finden, die kein Geschlecht ausschließen („Team“ statt „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“).

Noch zurückhaltender fällt der Beschluss bezogen auf das Gendern aus, das auch diverse Menschen berücksichtigt:

Für einen Beschluss dazu ist es zu früh. Dafür sprechen zwei Gründe:

  • Es gibt unter den Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich empfinden, bisher keinen Konsens, wie gegendert werden soll.
  • Der Rat für deutsche Rechtschreibung, die maßgebende Instanz in Fragen der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum, hat im November 2018 erklärt, dass es noch zu früh für eine Entscheidung ist.

Als Übergangslösung kann bei längeren Texten in einem vorangestellten Satz erklärt werden, dass Personenbezeichnungen als geschlechtsneutral zu verstehen sind (was aber nicht das Gendern männlich/weiblich im Text ersetzt).

Andere gehen noch weiter. So schrieb das Österreichische Nachrichtenportal zum Thema Behinderung, BIZEPS, kürzlich in einem ansonsten sehr anregenden und differenzierten Beitrag zur Debatte doch tatsächlich:

Es bleibt auf jeden Fall festzuhalten, dass das Gender-Sternchen blinde Menschen diskriminiert.

Ausdrücklich möchte ich festhalten, dass der BIZEPS-Artikel von Jürgen Schwingshandl ein wunderbares Plädoyer für die Vereinbarkeit von Barrierefreiheit und gendergerechter Sprache ist. Ich kann lediglich der Aussage nicht zustimmen, wonach das Gender-Sternchen blinde Menschen diskriminiert. Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Geht es eigentlich auch eine Nummer kleiner? Das Gendern entspringt aus einem Akt der Emanzipation. Zunächst ging es darum, die Gleichheit von Mann und Frau auch sprachlich auszudrücken. Mit dem Gender-Gap fand in den vergangenen Jahren u. A. die Perspektive nichtbinärer Menschen einen Ausdruck in Sprache und Schrift. Dabei entwickelt sich Sprache prozesshaft. Betroffene und die Gesellschaft streiten und diskutieren über den richtigen Weg. Irgendwann hat sich ein Standard etabliert, andere Varianten verschwinden.

Aus meiner Sicht machen es sich unser Dachverband DBSV und die in ihm organisierten Landesvereine etwas zu leicht, wenn wir Sternchen, Unterstrich und Doppelpunkt ausklammern und wir uns erst wieder damit befassen wollen, wenn sich die Gruppe der nichtbinären Menschen auf eine Variante geeinigt hat. Gar das schwere geschütz der Diskriminierung aufzufahren, halte ich schließlich für verfehlt und unsolidarisch. Letzteres gilt besonders dann, wenn die Diskriminierungsthese in einem weniger differenzierenden Kontext als im Text von Jürgen Schwingshandl vertreten wird.

Wo genau liegt denn die Diskriminierung? Darin, dass die Sprachausgabe beim Stern genau das vorliest, was da steht? Werden wir dadurch wirklich irgendwo ausgeschlossen, wie dies zum Beispiel bei nichtbeschriebenen Fotos der Fall ist? Nein. Wir werden evtl. irritiert. Wir müssen uns evtl. umgewöhnen, daran, dass „Mitarbeiter Stern innen“ eben nicht mit dem „Sternenhimmel“ und mit „Innen und Außen“ zu tun hat, sondern für „Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitende, die nicht (ausschließlich) männlich oder weiblich sind“ steht. Aber geht es sehenden Leser*innen nicht auch so? Wurden und werden nicht auch sie beim Lesen irritiert? Müssen nicht auch sie sich umgewöhnen?

Oder liegt die vermeintliche Diskriminierung blinder Menschen darin begründet, dass die künstlichen Stimmen unserer Computer die Begriffe nicht so vorlesen, wie sie üblicherweise gesprochen werden? Da ist sicherlich etwas dran. Aber wäre es dann nicht besser, den Druck auf Screenreader- und Sprachausgaben-Entwickler*innen zu erhöhen, damit in der Zukunft ein korrektes Vorlesen gegenderter Begriffe erfolgt? Schließlich haben Sprachausgaben in der Vergangenheit auch gelernt, statt „Semikolon Bindestrich Klammer Zu“ „Zwinkersmiley“ zu sagen. Und es wird ja auch kein blinder Mensch von seinen sehenden Mitmenschen erwarten, dass sie beim schreiben auf „1979“ oder das Wort „Update“ verzichten sollen, nur weil das Smartphone diese Begriffe falsch vorliest.

Fazit: Gendern, ganz gleich in welcher Variante, ist – so jedenfalls meine Meinung – keine Diskriminierung blinder Menschen. Das ist bezogen auf andere Behinderungen durchaus anders. So können gegenderte Texte tatsächlich für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Barriere sein. Auch mehrere Autist*innen haben mir auf Twitter von ihren Schwierigkeiten berichtet. Die meisten blinden Menschen werden sich aber genau wie sehende Menschen an Stern, Unterstrich oder Doppelpunkt gewöhnen. Anzunehmen ist schließlich, dass in den kommenden Jahren auch die Sprachausgaben lernen werden, wie gegenderte Texte am besten vorgelesen werden, oder es wird Einstellungsoptionen in der Screenreader-Software geben, mit der ich als Nutzer dann festlegen kann, wie die Wörter ausgesprochen werden sollen. Ich finde diesen Prozess spannend. Ich bin neugierig, wie sich die Debatte entwickelt. Und ich denke blinde Aktivist*innen und die Verbände der blinden und sehbehinderten Menschen sollten die gesellschaftliche Diskussion ums Gendern aufmerksam verfolgen und schon jetzt konstruktiv mit ihren (Zwischen-)Ergebnissen umgehen, statt noch länger bei einem unzeitgemäßen „Nein“ stehen zu bleiben oder gar einer anderen diskriminierten Gruppe, wie die der trans und nichtbinären Menschen, Diskriminierung vorzuwerfen. Antidiskriminierungskampf ist in erster Linie nämlich der Kampf gegen die Mächtigen, gegen etablierte Strukturen, die einzelne gesellschaftliche Gruppen dauerhaft benachteiligen. Antidiskriminierungskampf sollte aber niemals der Kampf gegen andere marginalisierte Gruppen sein.

Mit anderen Augen: Ein Gespräch über Sehen und Nichtsehen

Vor wenigen Wochen war ich Gast in Frank Staudingers hörenswerten Podcast „Teilnehmer, bitte sprechen“. Frank sprach mit mir über Sehen, Nichtsehen, über Barrieren im Web und in Hamburg, über den Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg und darüber, wie es ist, blind auf der Theaterbühne zu stehen. Unser Gespräch könnt ihr auf teilnehmer-bitte-sprechen.podigee.io nachhören.

Danke, Frank, für die Einladung, und weiter viele spannende, irritierende Podcast-Gespräche wünsche ich dir!