Perspektiven (9): „Was nicht sein darf, kann nicht sein“

Die Lebenswirklichkeit sehbehinderter und blinder Menschen ist sehr unterschiedlich: Je nach Persönlichkeit und der individuellen Erfahrungen. Es spielt eine Rolle, wann das Sehen nachlässt, wie sehr man sich an Hilfsmittel gewöhnt hat, ob man von Familie und Freunden weiter wertgeschätzt wird, ob man Quellen hat, aus denen man Kraft schöpfen kann. julia bartz stellt in der Schweriner Volkszeitung Günter Holz vor:

Trotz der Hilfsmittel ist das Leben eines Blinden stark beeinträchtigt. Sogar nach zehn Jahren Sehbehinderung will sich Günter Holz noch nicht mit seinem Schicksal abfinden. „Ich wünsche mir so sehr mein Augenlicht zurück. Aber man muss damit umgehen lernen, auch wenn es schwer fällt“, sagt er. Es war ein Schock für ihn und für seine Angehörigen, als Günter Holz plötzlich erblindete. Für ihn war besonders in der ersten Zeit die Umstellung groß. „Ich bin oft gestürzt“, sagt er.

Und dann gibt es Menschen wie MULGHETA RUSSOM, Deutschlands bestem Blindenfußballer, der in einem Bild-Artikel von THOMAS SULZER zitiert wird:

Durch den Blinden-Fußball habe ich mir alles wieder erobert, was mir der Fußball vorher gegeben hat. Ich fühle mich völlig frei auf dem Spielfeld.“ Ziemlich oft trainiert er bis zu vier Stunden am Tag. „Man muss“, sagt Russom, „ein bisschen einen Knall haben.“ Denn Blinden-Fußball ist gefährlicher als der Fußball für Otto-Normal-Verbraucher. Die Gefahr besteht eben, dass man mit einem Gegenspieler zusammenprallt. „Ich habe mir im vergangenen Jahr die Nase gebrochen und einen Zahn ausgeschlagen. Viele denken doch, wir würden dort Kullerball spielen, dabei ist das richtig harte Action.

Die sehbehinderte Clarissa Ravasio wurde als Kind von Nonnen im Heim und von ihrem Vater missbraucht. In einem bewegenden Artikel der Journalistin Irena Jurinak bricht die heute 50Jährige ihr Schweigen:

Lange hatte Clarissa Ravasio keine Erinnerung an ihre Kindheit. Bis die Bilder zurückkehrten. Mit 45 Jahren begann sie, das Erlebte aufzuarbeiten. Sie ging das erste Mal in eine Frauengruppe und erlebte, dass sie nicht die Einzige war. Diese Gruppenarbeit öffnete eine Kammer des Schreckens und Clarissa Ravasio musste sich professionelle Hilfe holen. Seit mehreren Jahren wird sie nun therapeutisch begleitet und lernt, mit ihrem Trauma zu leben. Immer wieder falle sie in alte Muster zurück, verletze sich, um mit den Erinnerungen und Bildern fertig zu werden. «Das ist wie ein Fluch, der auf einem lastet. Es glaubt einem niemand.» Denn was nicht sein darf, kann nicht sein. Ihre Grossmutter habe immer gesagt: «Du hattest es so gut dort.» In solchen Momenten habe sie das geglaubt. «Am schwierigsten war, mir selber zu glauben, dass das, was mir passiert ist, die Wahrheit ist.»

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie von mir via Twitter.

Sehbehinderten-Sonntag: Eine Kirche ertasten

Kirche: Seheindruck mit Makula-Degeneration
Kirche: Seheindruck mit Makula-Degeneration (Bildnachweis: Shutterstock)

Der 6. Juni war Sehbehinderten-Sonntag. Bundesweit haben Blinden- und Sehbehindertenvereine und Kirchen auf die Lage von Menschen mit Sehbehinderung aufmerksam gemacht. In hamburg führten wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH), der christliche Blindendienst und die Hauptkirche St. Petri einen Gottesdienst und im Anschluss eine Führung durch das Gotteshaus an der Mönckebergstraße durch. Während es bisher der Normallfall ist, dass der BSVH bei Museen oder Kirchen anfragt, ob eine spezielle Führung für eine unserer Gruppen ermöglicht werden kann, war es im Fall St. Petri andersherum. Das engagierte Team der Guides hatte sich an uns gewandt, weil es diese Führung anbieten wollte. Wir gaben in einem Vortreffen Tipps, und so konnten gestern rund 30 Besucher die ehrwürdige Kirche ertasten und erlauschen. Der evangelische Rundfunkdienst Nord hat hierzu einen Beitrag für die norddeutschen Privatsender produziert, den Sie als Godcast hier nachhören können.

Regression und Authentizität: Gedanken über das Phänomen Lena

Musikkenner verzweifeln: „Das ist langweiliger Mainstream-Pop – und singen kann sie auch nicht!“ Kosmopoliten machen sich lustig: „Das ist doch kein Englisch!“ Die antideutsche Linke ist angewidert: „Überall Schwarz-Rot-Gold…Die ist ja nur beliebt, weil sie keinen Migrationshintergrund hat“. Und wirklich scheint in Deutschland der Lenationalismus ausgebrochen zu sein. Ein Land feiert eine ganz normale 19-jährige Frau aus Hannover. Warum nur?

Ich gestehe es: Lena gefällt mir bei Facebook, Ich hab ihr Album und ich hab mich am Samstag sehr über ihren Sieg gefreut und ihn – wenn auch maßvoll – auf der Reeperbahn gefeiert. In Zeiten wie diesen, in denen ein Sparwahnsinn dem nächsten folgt und dabei das Blindengeld unter sich begräbt, in der Öl die Natur verschmutzt, die Bundespolitik nur noch krisenhaft um sich selbst kreist, da freut sich der Medien-Konsument, der ich auch bin, über positive Nachrichten. Und eine positive Nachricht ist es, wenn eine sympathische junge Frau wie Lena den Eurovision-Songcontest gegen stereotype und langweilige Konkurrenz gewinnt. Ich bin froh, dass ich in einem Land lebe, in dem es nicht nur die No Angles, „Deutschland sucht den Superstar“ oder ähnliche Grausamkeiten gibt, sondern auch überdurchschnittliche Pop-Musik, vergleichsweise menschliche TV-Formate wie „Unser Star für Oslo“ und natürlich auftretende junge Künstler wie Lena.

Alle sprechen von Lenas Natürlichkeit, ihrer Authentizität. Zurecht. Es ist ja nicht die Regel im deutschen Fernsehen, dass man Stars und vermeintlichen Sternchen abnimmt, was sie da tun, dass sie Humor haben und einfach drauf los quatschen, wie man es mit 19 eben tut, dabei aber nicht dumm, sondern jugendlich-witzig bleiben.

Lenas Authentizität traf auf eine perfekt inszenierte Uninszeniertheit. Stefan Raab und seine geschickte PR im Vorhinein des Wettbewerbs dürften einen erheblichen Anteil am Erfolg der Hannoveranerin gehabt haben. Tapio Liller bringt es im Nebelhorn auf den Punkt:

In den Fachdebatten über Social-Media-Kommunikation wird gern recht akademisch über Authentizität, über Echtheit im Auftritt diskutiert. Was mir persönlich dabei oft zu kurz kommt ist der Faktor „sich selbst nicht bierernst nehmen“. Es ist diese „mir doch egal, was die anderen denken“-Haltung, die Menschen „echt“ und „sympatisch“ rüberkommen lässt. Bei Lena war es die Portion „Wahnsinn“, wie Raab mal als Jurypräsident von USFO sagte.

 

Über diesen Wahnsinn darf man sich freuen. Man darf in Zeiten der politischen Depression und wirtschaftlichen Krise auch mal ein bisschen abtauchen in die Erinnerungen an Kindheitstage vor dem Fernseher, als man vergeblich auf 12 Punkte wartete. Und wenn die Regression nicht ganz soweit zurückführen soll, dann genießt man die Albernheiten von Stefan Raab, die sich heute nur unwesentlich von seiner Vivasion-Zeit unterscheiden.

Dass Lenas Ausstrahlung und die Raab’sche Vermarktung in unsere Zeit passen haben die vielen Punkte aus Skandinavien, dem Baltikum, der Slowakei und vielen anderen Ländern gezeigt. Selbst der Blog des englischen Guardian zeigte sich entzückt. Dort hieß es am Samstag zu Lenas Auftritt britisch-ironisch-charmant.

Lena, her name is, and you’ll be hard pushed to find anybody more endearing on the face of the planet right now. Look at her, bobbing around and mispronouncing words like a pocket-sized Bjork. She’s adorable. This probably isn’t the place to admit it, but I think I might love Lena a little bit.

Or, to put it in a way she’ll understand, I ‚lawfe‘ her.