Noch ein Hörtipp: Sehnsucht nach Bild

Es ist wahrscheinlich die größte Angst eines passionierten Fotografen: zu erblinden. Bildwelten zwischen Poesie und Fantastik schuf der Fotograf Hannes Wallrafen. Seine Arbeiten hängen in vielen Museen und Sammlungen. Durch eine seltene Augenkrankheit – Lebersche Optikusatrophie – erblindete er binnen weniger Monate. Die Erblindung nötigte ihn auch künstlerisch zu einem neuen Leben, das er sich mit Kraft und Nachdruck eroberte. Er tauschte die Welt der Bilder mit der Welt der Töne. Der Fotograf wurde Audiograf.

In einem sinnlichen und nachdenklichen Feature von Rogeria Burgers kommt Wallrafen ausführlich zu Wort. Er spricht über seinen Weg vom Sehen zum Hören. Und er spricht über die Kraft, die ihm sein neues Leben abverlangt. Die Sendung kann auf der Website von SWR2 nachgehört werden, oder Sie laden sich die MP3-Datei gleich hier herunter.

Erblinden eines Siebenjährigen: Leben in einer neuen Welt

Ich kann mich an keinen Traumatischen Moment erinnern. Mit sieben Jahren erblindete ich durch eine Operation. Das letzte, was ich in meinem Leben gesehen habe, waren meine Eltern, die an meinem Krankenhausbett standen. Und dann war da noch eine Frau – ich glaube, sie war die Mutter eines anderen Kindes von der Station – und eine Ärztin. Ich hatte damals große Angst vor Spritzen. Und so weinte ich auch jetzt wieder, weil ich die Narkose-Spritze nicht wollte. Aber hatte ich in diesem Moment Angst vorm Blindsein? Fürchtete ich, nie wieder auf einem Spielplatz toben zu können? War ich traurig, weil ich nie wieder würde Bilder malen können? Hatte ich doch kurz zuvor einen Malwettbewerb der Kleinstadt gewonnen, in der meine Eltern und ich damals lebten. Die Urkunde bekam ich einige Wochen nach meiner OP – als Blinder, der den ersten Preis in einem Malwettbewerb gewonnen hatte.

Meine Eltern hatten die Ärzte gebeten, mit mir raus gehen zu dürfen, in die Natur, damit ich noch einmal einen Baum sehen könnte. Damals konnte ich die traurige Schönheit dieses Wunsches nicht begreifen. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, diesen Wunsch geteilt zu haben. Zum Glück, denn er wurde nicht erfüllt. Die Zeit drängte. Die Operation musste schnell erfolgen. Alles Andere wäre lebensgefährlich gewesen. Als ich aus der Narkose erwachte, war ich blind.

War das ein Schock? Wenn ja, dann kann ich mich daran nicht erinnern. Ich erinnere mich ans Tasten, ans Neuentdecken der Welt. Ich stellte zum Beispiel fest, dass ich viele meiner Hörspielkassetten unterscheiden konnte. Manche Hüllen waren geriffelt, andere nicht, die Kassetten waren rau oder glatt, ihre Löcher waren eckig, andere rund, bei manchen konnte man in der Mitte das Band fühlen, andere hatten dort eine rechteckige Kunststoffplatte. So erkundete ich die Welt, erschloss mir meine kleine Kinder-Umwelt neu.

Und ich erinnere mich an die Traurigkeit meiner Eltern, meine Mutter, die fragte „konntest Du die Kassette sehen?“, nur weil ich die Drei-Fragezeichen-Folge auf Anhieb mit meinen Händen fand. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Junge nichts mehr sah. Kinder wollen nicht, dass ihre Eltern traurig sind. Dieses Nichtwollen war wohl ein wichtiger Ansporn, schnell wieder selbstständig zu sein. Ich wollte meinen verunsicherten Eltern zeigen, dass ich auch als blindes Kind gut in der Schule sein, Freunde finden und fröhlich sein konnte.

All das geschah nicht bewusst. Es geschah einfach. Das Leben ging weiter. Die Blindenschule begann wenige Monate nach der OP. Ich lernte die Brailleschrift und verschlang schon bald Kinderbücher in Hülle und Fülle. Mit sieben, acht, neun Jahren will man die Welt entdecken. Ich entdeckte die Welt in der Literatur. Und ich wollte so gut lesen, wie die Menschen im Radio (in den 80ern wurde im Radio noch gesprochen). Ich las laut vor, selbst wenn niemand zuhörte.

Es soll hier keineswegs der Eindruck entstehen, dass Erblinden ein Ponyhof sei. Ich erinnere mich gut an mein erstes Jahr an der Hamburger Blinden- und Sehbehindertenschule, an das selbstständige Gehen über den Schulhof – tastend, unsicher, ängstlich – und an die Panik, die in mir aufstieg, wenn ich mich verlaufen hatte, an die Tränen, die Hilflosigkeit, die Scham. Ich war ein wilder Junge gewesen, als ich noch sehen konnte, war durch die Kleinstadt gerannt, hatte mich mit anderen Kindern gerauft. All das schien mir nach meiner Erblindung unmöglich, auch weil mein kompletter sehender Freundeskreis weggebrochen war. Es gab noch ein, zwei von unseren Eltern angeleierte Treffen mit dem Nachbar-Jungen. Sie waren bedrückend. „Jetzt können wir nicht mehr miteinander spielen“, sagte er. Ich wusste noch nicht, dass das Quatsch war. Ich suchte mir neue Freunde. Sie waren blind oder sehbehindert.

Perspektiven (9): „Was nicht sein darf, kann nicht sein“

Die Lebenswirklichkeit sehbehinderter und blinder Menschen ist sehr unterschiedlich: Je nach Persönlichkeit und der individuellen Erfahrungen. Es spielt eine Rolle, wann das Sehen nachlässt, wie sehr man sich an Hilfsmittel gewöhnt hat, ob man von Familie und Freunden weiter wertgeschätzt wird, ob man Quellen hat, aus denen man Kraft schöpfen kann. julia bartz stellt in der Schweriner Volkszeitung Günter Holz vor:

Trotz der Hilfsmittel ist das Leben eines Blinden stark beeinträchtigt. Sogar nach zehn Jahren Sehbehinderung will sich Günter Holz noch nicht mit seinem Schicksal abfinden. „Ich wünsche mir so sehr mein Augenlicht zurück. Aber man muss damit umgehen lernen, auch wenn es schwer fällt“, sagt er. Es war ein Schock für ihn und für seine Angehörigen, als Günter Holz plötzlich erblindete. Für ihn war besonders in der ersten Zeit die Umstellung groß. „Ich bin oft gestürzt“, sagt er.

Und dann gibt es Menschen wie MULGHETA RUSSOM, Deutschlands bestem Blindenfußballer, der in einem Bild-Artikel von THOMAS SULZER zitiert wird:

Durch den Blinden-Fußball habe ich mir alles wieder erobert, was mir der Fußball vorher gegeben hat. Ich fühle mich völlig frei auf dem Spielfeld.“ Ziemlich oft trainiert er bis zu vier Stunden am Tag. „Man muss“, sagt Russom, „ein bisschen einen Knall haben.“ Denn Blinden-Fußball ist gefährlicher als der Fußball für Otto-Normal-Verbraucher. Die Gefahr besteht eben, dass man mit einem Gegenspieler zusammenprallt. „Ich habe mir im vergangenen Jahr die Nase gebrochen und einen Zahn ausgeschlagen. Viele denken doch, wir würden dort Kullerball spielen, dabei ist das richtig harte Action.

Die sehbehinderte Clarissa Ravasio wurde als Kind von Nonnen im Heim und von ihrem Vater missbraucht. In einem bewegenden Artikel der Journalistin Irena Jurinak bricht die heute 50Jährige ihr Schweigen:

Lange hatte Clarissa Ravasio keine Erinnerung an ihre Kindheit. Bis die Bilder zurückkehrten. Mit 45 Jahren begann sie, das Erlebte aufzuarbeiten. Sie ging das erste Mal in eine Frauengruppe und erlebte, dass sie nicht die Einzige war. Diese Gruppenarbeit öffnete eine Kammer des Schreckens und Clarissa Ravasio musste sich professionelle Hilfe holen. Seit mehreren Jahren wird sie nun therapeutisch begleitet und lernt, mit ihrem Trauma zu leben. Immer wieder falle sie in alte Muster zurück, verletze sich, um mit den Erinnerungen und Bildern fertig zu werden. «Das ist wie ein Fluch, der auf einem lastet. Es glaubt einem niemand.» Denn was nicht sein darf, kann nicht sein. Ihre Grossmutter habe immer gesagt: «Du hattest es so gut dort.» In solchen Momenten habe sie das geglaubt. «Am schwierigsten war, mir selber zu glauben, dass das, was mir passiert ist, die Wahrheit ist.»

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie von mir via Twitter.

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