Fehmarn: Da fehlt nichts

Schon im Zug höre ich das Schreien der Möwen, eigentlich kein schöner Gesang, und doch ist es in mir mit Urlaub, Ruhe und Glück verknüpft. Die bezaubernde Anna und ich sind auf Fehmarn. Für mich ist es eine Premiere. Die Sonneninsel macht ihrem Namen alle Ehre. Nur einmal geraten wir in zwei Tagen in einen Schauer. Und selbst ein kleiner Schauer stört nicht wirklich, wenn man dabei durch den Sand stapft und neben einem die Wellen an den Strand schlagen.

„Wie reisen Blinde?“, fragte mich jüngst eine Journalistin.

Wie jeder andere Mensch auch, nur dass meine Eindrücke teils andere sind. Mein Eindruck von einem Reiseziel ist – wie all meine Eindrücke – ein akustischer, ein gefühlter, ein duftender.

„Da fehlt doch das Wichtigste“, werden jetzt vielleicht einige sehende Leser denken.

Dazu kann ich nur sagen: Fehmarns Strand duftet gleichzeitig nach Meer und grüner Weide, die Wellen kühlen meine Füße, der Sand ist mal mit glatten und kleinen, mal mit großen und rauhen Steinen durchzogen, mal mit Muscheln, die beim Auftreten knirschen. Wir liegen im Sand. Die Sonne scheint auf uns. Der Wind weht über unsere Gesichter. Menschen lachen. Schafe blöken. Möwen und Krähen rufen ihre markanten Schreie. In der Ferne hören wir einen Kuckuck. Hunde stapfen durch den Sand. Die Wellen rauschen gleichmäßig und sanft. Anna und ich erzählen uns, was wir hören. Ich vermisse nichts.

Ein besonderes Hotel

Urlaub. Abschalten. Energie Tanken. Gerade für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Suche nach dem geeigneten Reiseziel wichtig. Der Alltag mit dem weißen Stock verlangt viel Konzentration. Schließlich muss ein eingeschränkter oder fehlender Sinn rund um die Uhr ersetzt werden. Da wollen viele Betroffene zumindest während der Ferien eine barrierefreie Umwelt. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) betreibt in Timmendorfer Strand sein Aura-Hotel. Das moderne Haus liegt wenige hundert Meter vom Ostsee-Strand entfernt und bietet Hotel-Komfort plus kontrastreiche Zimmer- und Treppenhaus-Gestaltung, hilfsbereites und unaufdringliches Personal, Begleitung bei Ausflügen, eine Hörbibliothek und vieles mehr. Ein sehr sehenswertes Info-Video können Sie auf der Aura-Infoseite vom BSVH anschauen.

Dreierlei Rauschen

Juist im Winter: Leere, Ruhe, Weite, Frische! Die bezaubernde Anna und ich waren am vergangenen Wochenende auf der ostfriesischen Insel. Was für ein Kontrast zu Frankfurt am Main. Dort hatte ich zuvor ein PR-Seminar besucht. Auto- und Straßenbahnlärm, Hochhäuser und Abgase wurden durch das Rauschen des Meeres, Dünenwanderwege und eine autofreie Insel abgelöst. Johanna hatte Recht, als sie in ihrem Blog schrieb: „Juist im Januar – einsamer geht es kaum! Wenn sogar die Einheimischen in Teilen die Insel verlassen, bleiben endlose unberührte Strände und ein einzigartiges Gefühl der Ruhe. Muss man machen: Alleine, singend, im Regen am Strand tanzen!“

Schon die Anreise war ein Spaß: mit dem Miniflieger von Norddeich auf die Insel. Acht Leute fanden Platz, eng an eng, direkt über meinem Kopf war das Dach. Gepäck in den Kofferraum, türen zu, Motoren an. Ich fühlte mich eher wie in einem Bus – einem Bus mit zwei sehr lauten Motoren. Abheben, das Schaukeln im Wind, das Kribbeln im Bauch beim Landen, herrlich. Noch herrlicher war der Bus-Service vom Flughafen Juist in die Friesenstraße im Ortskern. Kutschenbus ist das Stichwort. Gemütlich trabten wir die vier Kilometer zu unserer Pension. Und danach zwei Tage Spazieren, Essen, Schlafen – Energie Tanken.

Die Juister Kinder hatten zwei Wochen Winterferien. Viele Einheimische waren daher im Urlaub. Die meisten Restaurants und Geschäfte waren geschlossen. Wir trafen kaum einen Menschen auf den Straßen, Wanderwegen und am Strand. Die Sonne schien, die Luft zog salzhaltig und rein vom Nordmeer kommend in unsere Lungen. Es lag sogar ein bisschen Schnee, eine Seltenheit auf der Insel.

Am Sonntag stürmte es. Wie wundervoll war es, an diesem Tag am Strand zu sein. Es zog und drückte an der Kleidung. Dreierlei Rauschen hörte ich: das massive, dumpfe Dröhnen der Nordseewellen, das pausenlose, kräftige Wehen des Windes und schließlich das feine Zischen des Sandes, der um unsere Beine stob. Das sind Momente, die sind einfach und gerade deswegen so beeindruckend. Sie werden mir gewiss im Gedächtnis bleiben.

Weimar begreifen

Das Internet vergisst wirklich nicht – und das hat auch seine schönen Seiten. Zuvällig stolperte ich jüngst über einen Text von mir, den ich vor über drei Jahren für die sZ-Beilage Jetzt.de geschrieben hatte. Er berichtet von einer schönen Erinnerung und schafft es somit auch in dieses Blog:

Weimar begreifen

http://www.jetzt.de, 17.10.2005

Ein Weimar-Wochenende aus der Sicht eines Blinden: Heiko Kunert, Gewinner des Anna-Amalia-Schreibwettbewerbs, erlebt die spannungsreiche Goethe-Stadt mit Händen, Ohren und Nase.

Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar klingt groß. In ihr ist es warm. Sie riecht wie ein Neubau – wie ein Neubau mit staubigen Büchern. Und das ist sie ja auch: Nachdem das Renaissance-Gebäude im September 2004 durch ein Feuer
verwüstet wurde, dem Tausende wertvoller Bücher zum Opfer fielen, wird es zurzeit restauriert.

„Allianz-Kulturstiftung“ und „Süddeutsche Zeitung“ – die Initiatoren des Schreibwettbewerbs – haben hierher eingeladen. Wir Bestplatzierten tragen unsere Geschichten vor. Sie handeln vom realen Buch aus Papier, von Büchereien als Orten menschlicher Begegnung. Wie konnten diese Texte einen Onlinewettbewerb gewinnen? Der Schriftsteller Tobias Hülswitt überreicht die Preise: Ipods. Wie passen diese an einen Ort, in dem Mozart-Handschriften archiviert sind?

Ruhe und Gelehrsamkeit in der Bibliothek prallen heute auf den Zwiebelmarkt. 350.000 Besucher werden an diesem Wochenende in Weimars Altstadt feiern. Deutschsprachige Country-Kracher der 80er Jahre werden auf einer
Festbühne lustlos, aber laut intoniert. Volksfeste sind halt so, aber zu Goethe und Klassik wollen sie nicht passen.

Wir – Jury und Preisträger – flüchten in den Park des Schlosses Belvedere. Hier riecht es nicht nach Bratwurst, Zwiebelkuchen und gebrannten Mandeln. Hier riecht es nach den letzten Blüten
des Jahres, nach Herbstsonne auf kühler Erde. Im Schlosspark erklingen weder Truckstop, noch Schunkeljazz. Hier zwitschern Vögel, Violinentöne schweben
aus dem „Musikgymnasium Schloss Belvedere“. Hier wird nicht Nippes angepriesen, hier plaudert Helmut Seemann – Präsident der Stiftung Weimarer Klassik
und Kunstsammlungen – über die Marotten Herzog Carl Augusts und die botanischen Forschungen Goethes, als sei er ein Zeitzeuge. Mir ist klar: Wo, wenn nicht
hier, sollten die Ideen der Klassik entstanden sein? Wo, wenn nicht hier, sollten Genie und Macht, Kunst und Politik eine harmonische Einheit eingegangen
sein? Wo, wenn nicht in dieser Parkanlage und im Schloss Belvedere?

Heute repräsentieren nicht mehr Schlösser die Macht, sondern Rathäuser. Das Rathaus von Jena, in das wir am Abend fahren, riecht wie eine Aula, die Stühle sind so bequem wie in der Schule. Es gibt barocke Musik. Und schon ist sie wieder
da, nach den ersten Cembalo-Takten: die Vergangenheit: Ich denke an Grimmelshausen, Gottesfurcht und 30jährigen Krieg; nicht an meinen ersten Platz im
Schreibwettbewerb und nicht an das verheerende Erdbeben in Pakistan.

Auch im Goethehaus, in dem der Faust-Schreiber knapp 50 Lebensjahre verbrachte, scheint es keine Gegenwart zu geben, obwohl Kopfhörer und ein Film Hintergründe liefern und „die Wahlverwandtschaften“ im Souvenirshop auf DVD verkauft werden.
In den schlichten und engen Kammern beeindrucken historische Athene-Büsten, der verzierte Steinofen, der Schreibtisch des Meisters: Ich erhalte die Erlaubnis,
die Ausstellungsstücke anfassen zu dürfen, ein sinnliches Privileg blinder Besucher. Ich begreife im Goethehaus Geschichte.

In meinem Weimar schwingt der Geist der Klassik neben dem Geist einer ganz gewöhnlichen ostdeutschen Kleinstadt. In ihm erahne ich, zu welch Höhenflügen der menschliche Geist fähig ist. Mein Weimar duftet nach endlosen Bücherreihen und riecht nach Massentourismus. Es umspielt mich mit alten Wahrheiten und neuen Fragen. Mein Weimar klingt nach Goethe-Gedichten aus weißen Kopfhörern.

Gefunden unter http://www.allianz-kulturstiftung.de/presse/archiv_presseinformationen/herzogin_anna_amalia_bibliothek/weimar_begreifen/weimar_begreifen.html