Das Kino der Blinden

„Die Stadt der Blinden“ läuft seit gestern im Kino. Der Film bringt die Frage nach der Verfilmbarkeit von Blindheit wieder auf die Agenda. Und die Frage nach den Film-Gewohnheiten blinder Zuschauer. Hierzu einige Auszüge aus meinem Gedankenaustausch mit Strider auf Zoomer.de:

HKunert: Blindheit auf die Leinwand zu bringen, das ist immer ein schwieriges Unterfangen. Ich selbst bin blind und weiß, dass das Bild der sehenden Menschen von
uns durch die Medien geprägt ist. Direkten persönlichen Kontakt mit Blinden haben dagegen die wenigsten. Somit kommt Filmen wie „Blindsight“, „Erbsen auf halb 6“ oder „der Duft der Frauen“ eine große Bedeutung zu. Nun geht es bei der „Stadt der Blinden“ – ich kenne bisher lediglich das grausam gelungene
Hörspiel – ja eigentlich nicht wirklich um die Behinderung Blindheit. Das Nichtsehen ist hier eine Metapher. Hoffentlich versteht das jeder Zuschauer auch so.

Strider: Wirst Du Dir dann den Film trotzdem im Kino ansehen, respektive anhören? Hab mal gehört, dass es in einigen Kinos den Service gibt, dass Sehgeschädigte eine Art Untertitel per Kopfhörer bekommen können, der ihnen erklärt, was gerade zu sehen ist? Von so einer Möglichkeit schon mal Gebrauch gemacht? Wenn ja, ist das hilfreich oder eher störend?

HKunert: Ich sehe mir gern Filme an (ich benutze übrigens auch diese Formulierung, da sie einfach umgangssprachlich so gebraucht wird, auch wenn ich den Film eigentlich ja höre). Für mich funktioniert ein Film mehr wie ein Hörspiel. Und in Dolby-Zeiten wird in Filmen ja auch immer mehr Wert auf guten Sound gelegt. „Die
Stadt der Blinden“ werde ich gewiss sehen. Den Service mit dem Kopfhörer habe ich schon einmal genutzt. Dabei wird die Audiodeskription – sprich: die Beschreibung von Mimik, Gestik usw. – übertragen. Diese sog. Hörfilme laufen ja auch gelegentlich im TV und sind eine tolle Sache. Da die Beschreibungen passend in die Dialogpausen gesprochen werden, entgeht mir kein Wort und meine sehende Kino-Begleitung kann sich voll auf den eigenen Filmgenuss konzentrieren und braucht mir nichts zu erklären. In Kinos ist
dieser Service aber sehr selten.

Strider: Dass Filme für Dich wie Hörspiele sind, habe ich mir schon fast gedacht, aber wie funktioniert das bei Komödien, die ja auch viel von Mimik und Gestik leben? Geht da insgesamt nicht auch einiges am Inhalt verloren?

HKunert: Es gibt tatsächlich Filme, die besser für mich geeignet sind, und es gibt Filme, die für mich kaum Konsumierbar sind. Für mich sind dialogreiche Streifen
natürlich ein wesentlich größeres Vergnügen als Filme, die ihre Spannung ausschließlich aus Bildern ziehen. So ist mir z.B. von den Coen-Brüdern ein „Big Lebowski“, in dem eigentlich nonstop gesprochen wird und der stark von seinem Wortwitz lebt, lieber als „No country for old Men“, in dem stumme Verfolgungsszenen
genial umgesetzt sein sollen. Aber klar: Wenn man es aus Sicht eines Sehenden betrachtet, geht mir bei jedem Film etwas verloren, da mir das Visuelle fehlt. Für mich ist ein Film etwas ganz anderes als für Dich. Für mich spielt viel mehr die Fantasie eine Rolle. Aus Geräuschen, Stimmen und Musik setze ich mir ein „Bild“ zusammen. Gelegentlich schließe ich das Geschehene erst aus der Folgeszene, weil rein akustisch z.B. nicht sofort klar war, wer jetzt wen erschossen hat. Nur: für mich ist es ja normal, ohne das Sehen zu leben, ob nun bei der Arbeit, am PC, in der U-Bahn oder im Kino. Somit würde mir ja noch mehr verloren
gehen, wenn ich mir die Gestik-Mimik-Komödie gar nicht anschauen würde.

Bürgerliche Pflichten und bürgerliches Scheitern

Inspiriert durch die eigene Bühnenerfahrung und durch die zauberhafte Anna mache ich gerade Theater-Wochen. Am vergangenen Mittwoch sahen wir die Buddenbrooks im Thalia-Theater. Die Wieder-Aufführung der John-von-Düffel-Adaption des Thomas-Mann-Klassikers war witzig, schlicht und gelungen. Auf zwei Buddenbrooks-Generationen musste von düffel verzichten. Er konzentrierte sich auf die ökonomischen Zwänge, denen das bürgerliche Leben unterworfen ist. Das war in sich stimmig und klug gelöst, wenngleich die Vielschichtigkeit und breite Anlage des Romans sich nicht auf der bühne fand. Die Schauspieler waren mit enormem Spielwitz dabei und brachten dynamische, kurzweilige, humorvolle und nicht zu nachdenkliche zweieinhalb Stunden Theater auf die Bühne. Sie werden das am 8. Dezember wieder tun

Bedrückender als die Buddenbrooks kam am Samstag Michael Kramer im Ernst-Deutsch-Theater daher. Aber auch bei Gerhart Hauptmann stehen bürgerliche Werte im Zentrum: Pflichterfüllung und Disziplin. Diese fordert der Kunstprofessor Kramer von seinem Sohn Arnold, der sich sein Leben lang dagegen auflehnt und dabei seine Talente verschenkt. Das Scheitern des Sohnes kulminiert in einer unglücklichen Liebe, dem Spott der Gesellschaft und schließlich im Selbstmord des Sohnes. Erst dieser Selbstmord führt zur Reflektion durch den Vater. Uwe Friedrichsen spielt diese viel zu späte Reflektion erschütternd und bewegend. „Michael Kramer“ ist kein schönes, aber ein gutes Stück, das Stoff zum Nachdenken an einem Herbstabend liefert. Vorstellungen finden noch bis zum 15. November statt.

Mal ein guter Bestseller

Nachdem meine letzte Bestseller-Lektüre eher eine Enttäuschung war, kann ich heute mal einen Bestseller empfehlen. Henning Mankells „Der Chinese“ ist ein intelligenter, spannender und bedrückender Kriminalroman. Auf eine Zusammenfassung der Handlung möchte ich hier verzichten. Nur soviel: der Roman verknüpft das historische Ereignis der Ausbeutung chinesischer Arbeiter beim Bau der US-amerikanischen Eisenbahn im 19. Jahrhundert mit einer Mordserie zu Beginn des neuen Jahrtausends in Schweden. Ich war zunächst skeptisch, hatte doch der Deutschlandfunk im Büchermarkt (Kritik nicht online) diese Verknüpfung konstruiert und unglaubwürdig genannt. Diese Kritik kann ich aber nicht teilen. So etwas kann nur ein Buchkritiker von sich geben, der nicht in historischen Dimensionen denken kann und Handlungsmotive ausschließlich in der psychischen Disposition der Akteure zu sehen vermag. Meiner Meinung nach ist Mankells aktuelles Buch natürlich konstruiert, aber sehr klug und aufrüttelnd, so wie man es vom schwedischen Autor gewohnt ist. „Der Chinese“ ist sicher nicht besser als andere Werke Mankells, aber ganz gewiss auch nicht schlechter. Und die ca. neunstündige Lesung von Axel Milberg ist von der ersten Sekunde an packend. Milberg liest so, dass man in jeder Szene, in jedem Wort, in jeder Silbe die Gefahren unserer modernen Welt erahnt – einem Mankell mehr als angemessen.

Das müssen Sie gelesen haben

Welche zehn Bücher muss man meiner Meinung nach gelesen haben? Das fragt zurzeit eine Blogparade. Eine schwierige Frage, die ich vielleicht in einem Monat wieder ganz anders beantworten würde. Aber was soll’s?

  • Hermann Hesse: Demian. Damals im Deutsch-LK gelesen, ist es für mich elementar. Es ist wohl eines der klügsten Bücher, die ich kenne. Schöner und anschaulicher kann man Psychoanalyse nicht in Prosa verwandeln – außer vielleicht Hermann Hesse in „Narziß und Goldmund“.
  • Erich Maria Remarque: Im Westen nichts neues. Literarisch vielleicht nicht erste Wahl. Inhaltlich und in Sachen Eindringlichkeit aber ungeschlagen. Wer endlich alle Illusionen zum Thema Krieg verlieren möchte, der sollte das Buch lesen.
  • Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Klingt jetzt vielleicht stereotyp, aber „Faust“ ist zurecht ein Klassiker.
  • Nikolaus Lenau: Faust. Zu unrecht kein Klassiker ist die Faust-Fassung von Nikolaus Lenau, dabei ist sie so wundervoll düster und pessimistisch.
  • Nick Hornby: High Fidelity. Mal etwas leichtere Kost. Liebe, Pop und die Suche nach Glück in einem swingenden Schreibstil. Nach der Lektüre werden auch Sie beginnen, eine Laura fürs Leben zu suchen.
  • Thomas Mann: Buddenbrooks. Da ich an dieser Stelle nicht das Gesamtwerk des Meisters empfehlen kann, beschränke ich mich auf seinen berühmtesten Roman. Er handelt vom Untergang einer Kaufmannsfamilie und deren Eintauchen in künstlerische, philosophische und existenzielle Fragen des Lebens. Im übrigen grandios in der Hörbuchfassung, die vom einzigartigen Gerd Westphal gelesen wird.
  • Theodor Fontane: Stechlin. Selten habe ich bei einem vermeintlich schweren Buch soviel gelacht. Das launische Spätwerk Fontanes hat soviel geistreiche Komik, soviel Liebe zum Menschen und zum Brandenburger Land – ein Spitzenbuch für ein Herbstwochenende (gibt es übrigens auch von Gerd Westphal gelesen).
  • John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag. Schön, wie Irving die großen Fragen nach Menschlichkeit und Liebe in die amerikanische Provinz stellt. Die Personen sind einfach zum Liebhaben, obwohl sie mir – begegneten sie einem im wirklichen Leben – wahrscheinlich schnell auf die Nerven gehen würden.
  • Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis. Physik, Philosophie und großartiger britischer Humor. Ich empfehle alle fünf Bände.
  • Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Darf man heutzutage noch Marcuse empfehlen? Vielleicht ist nicht alles tragbar, was der Philosoph schreibt. Dennoch ist seine Konkretisierung der Kritischen Theorie mitreißend und anregend zugleich. Im Idealfall (sprich: bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder Lust am Denken) sollte die Lektüre durch die Schriften Adornos und Horkheimers ergänzt werden.