Perspektiven (11): Wie ein Schlag

Es ist nicht die körperliche Behinderung, die das Leben manchmal unerträglich macht. Es sind Erfahrungen der Ausgrenzung, die man von Kindesbeinen an erfährt. So darf die zehnjährige Anna-Sophie Köster nicht mit ihren Grundschulfreundinnen auf dasselbe Gymnasium wechseln. Der Grund: engstirnige Lehrer und ein unflexibler Schulleiter. In Deutschland ist es noch ein sehr weiter Weg, bis die UN-Behindertenrechtskonvention zur gelebten Wirklichkeit wird. TRAUTE BÖRJES-MEINARDUS schildert in der Nordwest Zeitung vom 13. August 2010 den Fall:

Als Anna-Sophie Köster aus Varel den Brief des Jade-Gymnasiums las, traf es sie wie ein Schlag. Fest hatte sie damit gerechnet, dort ebenso wie ihre beiden Freunde in die fünfte Klasse aufgenommen zu werden, hatte sie doch auch eine Gymnasial-Empfehlung und denselben Notendurchschnitt. Aber die Zehnjährige wurde abgelehnt mit der Begründung, dass „die Schule nicht im geeignetem Maße auf ihre besonderen Bedürfnisse“ eingehen könne. Anna-Sophie leidet seit ihrer Geburt an einem so genannten „unklaren Fehlbildungssyndrom“. Sie ist sehbehindert, hat Laufschwierigkeiten und Probleme mit der Motorik. (…) Ihre Mutter Carmen Köster kann die Ablehnung nicht verstehen, hat ihre Tochter doch die Grundschule mit Bravour gemeistert und hätte auch am Jade-Gymnasium wie in der Grundschule eine Integrationshelferin an ihrer Seite, die sich ausschließlich um sie kümmert, ihr beispielsweise den Ranzen trägt und mit ihr zur Toilette geht. Die Eltern hatten sich fürs Jade-Gymnasium entschieden, weil auch Anna-Sophies Freundinnen dorthin gehen und weil die Schule nicht so groß ist.

Es gibt viele Hürden im Alltag behinderter Menschen in Deutschland. Doppelte Barrieren müssen behinderte Migranten überwinden. Im Wiesbadener Tagblatt vom 11. August 2010 stellt Anja Baumgart-Pietsch das Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (ZsL Mainz) und dessen Berater Ismail Sackan vor:

Er ist selbst stark sehbehindert und weiß daher nicht nur theoretisch, wie kompliziert das Leben als behinderter Mensch sein kann. Nicht nur die endlosen Formalitäten machen es schwer, sondern auch die emotionalen Belastungen für den Behinderten und seine Familie, gerade auch für Eltern behinderter Kinder. Wenn dann noch die Sprachbarriere dazukommt, verzweifeln manche. In diesen Situationen hilft das ZsL. „Wir möchten zum Beispiel gerade ein Verzeichnis von Arztpraxen erstellen, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden“, sagt Gracia Schade, die Vereinsvorsitzende. Zu diesem Zweck hat der Verein kürzlich einen Fragebogen an Ärzte verschickt. Es gibt oft Sprechstundenhilfen mit Migrationshintergrund, die für ausländische Patienten dolmetschen können. „Man muss es eben nur wissen“, so Gracia Schade.

Wie erging es blinden Menschen während der NS-Zeit? Noch immer herrscht die Sicht vor, dass sie als Behinderte nur Opfer der Nazi-Ideologie gewesen sein konnten. Schließlich müssten sie doch als „unwertes Leben“ angesehen worden sein. Dass dies nicht für alle galt, dass es sogar Betroffene gab, die sich aktiv am System beteiligten, hat die Wissenschaftlerin Barbara Hoffmann am Beispiel der österreichischen Ostmark erforscht. Veronika Schmidt zitiert in Die Presse vom 8. August 2010 Hoffmann:

„Häufig werden Menschen mit Behinderung als passive Objekte von Fürsorge gesehen, aber sie waren zum Teil auch aktive Beteiligte.“ Die schon vor dem „Anschluss“ bestehende „Zweiklassengesellschaft“ zwischen Kriegsblinden und Zivilblinden zieht sich durch die NS-Zeit – nur dass eine dritte Gruppe dazu kam: Blinde jüdischer Herkunft. Sie sind generell zu den Opfern zu zählen:„ Viele kamen nach Theresienstadt. Das Schicksal dieser Menschen ist sehr berührend.“ Teils wurde ihnen im täglichen Überlebenskampf Essen gestohlen, aber es bildete sich auch eine Art Fürsorge, bei der ihnen andere Menschen, die selbst nichts hatten, halfen. Blinde Menschen nicht jüdischer Herkunft waren nur dann für das NS-System „etwas wert“, wenn sie arbeiten konnten. (…) Der Kriegsblindenverband war in der Ostmark gut organisiert, die Funktionäre haben die NS-Ideologie verbreitet, aus dem Ersten Weltkrieg Erblindete waren eingebunden in die Rehabilitation der im Zweiten Weltkrieg erblindeten Soldaten. Manche fungierten gar als Gauredner – direkte Beteiligung am NS-System.

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie von mir via Twitter.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (47) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorsitzender der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen und der Erich-Quenzel-Stiftung, zudem in den Vorständen der Stiftung Centralbibliothek für Blinde und der Norddeutschen Blindenhörbücherei, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist Schreiber und Speaker und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

2 Kommentare zu „Perspektiven (11): Wie ein Schlag“

  1. Hallo Heiko,

    dass Behinderte Menschen nicht nur Opfer, sonder auch TäterInnen waren und sind, ist ein wichtiger Punkt. Sich von der Opferrolle zu verabschieden, heißt auch immer sich mit dem tabu des anderen Pols, dem TäterIn zu sein, auseinanderzusetzen. Gerade blinde Menschen haben es ja oft verstanden, einigermaßen glimpflich aus der NS-zeit herauszukommen, wie wir am Beispiel Carls Streels in marburg sehen. Mohammed Reza malmanesh hat dies sehr schön in seiner dissertation heruasgearbeitet. blinde Menschen haben deshalb auch eine Verantwortung anderen behinderten Leuten gegenüber, die nun mal auch darunter gelitten haben. Das Zauberwort muss daher Solidarität heißen mit allen Menschen, die eine Behidnerung haben, egal welche.

    Liebe Grüße von Susanne!

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  2. Es ist doch vollkommener Unsinn anzunehmen man koenne rechtlich nichts machen gegen Stuttgart-21, nur weil der Paul Kirchhoff das im Fernseher gesagt hat. Wo ein Wille ist ist auch ein Weg. Unter der ueberschrift „Gutachten gegen Gutachten“ stand gestern in der Stuttgarter Zeitung ein sehr interessanter Artikel. Der Rechtsprofessor Georg Hermes sieht die Rechtslage demnach ganz anders als Herr Paul Kirchhoff. Zitat Georg Hermes: „Es sei klar, dass das Eisenbahnrecht beim Bund liege, das Land trage aber erhebliche Kosten, damit sei es mit zustaendig.“ Professor Georg Hermes laesst auch nicht gelten, dass Vertraege ewig unkuendbar sein sollen. „Das verstoeßt gegen das Demokratieprinzip.“ Neue Parlamente haetten dann keine Moeglichkeiten, aus langfristigen Vertraegen herauszukommen, argumentierte Hermes. Auch den Einwand, gegen den Haushalt sei keine Volksabstimmung moeglich, laesst Hermes nicht gelten. „Dann waere eine Abstimmung ueber jedes Gesetz, das Geld kostet, ausgeschlossen.

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