Dessous-Werbung und Diskriminierung: Haltlose Kritik

Eine junge Frau räkelt sich genussvoll in Dessous, während sie sie anzieht. Sie streicht über den fast durchsichtigen, schwarzen Stoff, lächelt verträumt, zieht BH, Slip, Strümpfe und Strapse an. Dann setzt sie – jetzt auch mit Rock und Blazer bekleidet – eine Sonnenbrille auf und tritt, lasziv lächelnd, mit Blindenstock auf die Straße. Die Frau in dem Spot entpuppt sich als blind. Werbeslogan: Sinnlichkeit, die man fühlt.

So beschreibt Handelsblatt.com den Werbespot, den Sie hier anschauen können:

Der Handelsblatt-Artikel zitiert Gerhard Höllerer, seines Zeichens Präsident des Österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (ÖBSV): „In der TV-Kampagne wird ein völlig verdrehtes, unrealistisches und damit diskriminierendes Bild über blinde Menschen erzeugt, nur um in die Schlagzeilen zu kommen, nicht um den Betroffenen zu helfen.“

Hier muss ich als blinder Mensch widersprechen. Dieser Spot hat mit der – in unserer Gesellschaft leider immer noch vorhandenen – Diskriminierung Blinder nichts zu tun. Im Gegenteil: Der Überraschunseffekt stellt sogar die weit verbreitet angenommene Unvereinbarkeit von Behinderung und sinnlicher Schönheit in Frage. Was spricht dagegen, Blindheit in einer Dessous-Werbung zu zeigen? Sicherlich kann man ganz grundlegend das Frauenbild in Werbung und TV kritisieren, was sich aber nicht primär am konkreten Fall festmachen lässt. Dass hier ein völlig verdrehtes, unrealistisches und damit diskriminierendes Bild über blinde Menschen erzeugt werde, nur um in die Schlagzeilen zu kommen, halte ich für eine Fehleinschätzung. In die Schlagzeilen möchte hier wohl eher der ÖBSV-Präsident.

Was denken Sie? Ist Palmers Dessous-Kampagne sexistisch und diskriminierend?

Nachtrag (17.11.11): Inzwischen gibt es auch eine Hörfilm-Fassung des Spots für blinde Menschen:

Nachtrag II (21.11.11): Der ÖBSV hat die entsprechende Meldung inzwischen von seiner Homepage entfernt.

Bürokratie im Sozialstaat: Aus Gerechtigkeit wird Willkür

Sozialleistungen sind schwer zu bekommen. Gerade Menschen, die aufgrund einer Behinderung auf Pflege angewiesen sind, können davon ein Lied singen. Das scheint kein rein deutsches Phänomen zu sein. Gabriela Pichelmayer lebt in Österreich. Sie hat Multiple Sklerose und schildert ihre Erlebnisse mit der Bürokratie:

Hatten Sie schon einmal einen Auto- oder Haushaltsschaden? Und mussten Sie dann um die ihnen zustehende Versicherungssumme streiten? Oder ist die Auszahlung gar abgelehnt worden, obwohl Sie jahrelang eingezahlt haben?

Ähnlich verhält es sich beim gesetzlichen Pflegegeld. Nur mit dem Unterschied, dass dieses eine Lebensnotwendigkeit impliziert. Seit man berufsunfähig geworden ist, ist die Pensionsversicherungsanstalt auch Machthaber über das Pflegegeld. Ganz sicher nimmt man staatliche Hilfe nicht gern in Anspruch. Jetzt, wo es aber so sein muss, gilt es sich zu arrangieren und zu kämpfen. Denn Gerechtigkeit, soziales Engagement und Kompetenz sind Begriffe, die der Versicherungsträger ersetzt durch Willkür, Bürokratismus und Eigennutz.

Gabrielas vollständigen Bericht können Sie im Holyfruitsalad-Blog lesen. Der Gastbeitrag entstand im Rahmen unseres Netzwerkes der Blogpaten.

Und von welchen Erfahrungen mit der Sozialstaat-Bürokratie können Sie berichten?

Perspektiven (11): Wie ein Schlag

Es ist nicht die körperliche Behinderung, die das Leben manchmal unerträglich macht. Es sind Erfahrungen der Ausgrenzung, die man von Kindesbeinen an erfährt. So darf die zehnjährige Anna-Sophie Köster nicht mit ihren Grundschulfreundinnen auf dasselbe Gymnasium wechseln. Der Grund: engstirnige Lehrer und ein unflexibler Schulleiter. In Deutschland ist es noch ein sehr weiter Weg, bis die UN-Behindertenrechtskonvention zur gelebten Wirklichkeit wird. TRAUTE BÖRJES-MEINARDUS schildert in der Nordwest Zeitung vom 13. August 2010 den Fall:

Als Anna-Sophie Köster aus Varel den Brief des Jade-Gymnasiums las, traf es sie wie ein Schlag. Fest hatte sie damit gerechnet, dort ebenso wie ihre beiden Freunde in die fünfte Klasse aufgenommen zu werden, hatte sie doch auch eine Gymnasial-Empfehlung und denselben Notendurchschnitt. Aber die Zehnjährige wurde abgelehnt mit der Begründung, dass „die Schule nicht im geeignetem Maße auf ihre besonderen Bedürfnisse“ eingehen könne. Anna-Sophie leidet seit ihrer Geburt an einem so genannten „unklaren Fehlbildungssyndrom“. Sie ist sehbehindert, hat Laufschwierigkeiten und Probleme mit der Motorik. (…) Ihre Mutter Carmen Köster kann die Ablehnung nicht verstehen, hat ihre Tochter doch die Grundschule mit Bravour gemeistert und hätte auch am Jade-Gymnasium wie in der Grundschule eine Integrationshelferin an ihrer Seite, die sich ausschließlich um sie kümmert, ihr beispielsweise den Ranzen trägt und mit ihr zur Toilette geht. Die Eltern hatten sich fürs Jade-Gymnasium entschieden, weil auch Anna-Sophies Freundinnen dorthin gehen und weil die Schule nicht so groß ist.

Es gibt viele Hürden im Alltag behinderter Menschen in Deutschland. Doppelte Barrieren müssen behinderte Migranten überwinden. Im Wiesbadener Tagblatt vom 11. August 2010 stellt Anja Baumgart-Pietsch das Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (ZsL Mainz) und dessen Berater Ismail Sackan vor:

Er ist selbst stark sehbehindert und weiß daher nicht nur theoretisch, wie kompliziert das Leben als behinderter Mensch sein kann. Nicht nur die endlosen Formalitäten machen es schwer, sondern auch die emotionalen Belastungen für den Behinderten und seine Familie, gerade auch für Eltern behinderter Kinder. Wenn dann noch die Sprachbarriere dazukommt, verzweifeln manche. In diesen Situationen hilft das ZsL. „Wir möchten zum Beispiel gerade ein Verzeichnis von Arztpraxen erstellen, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden“, sagt Gracia Schade, die Vereinsvorsitzende. Zu diesem Zweck hat der Verein kürzlich einen Fragebogen an Ärzte verschickt. Es gibt oft Sprechstundenhilfen mit Migrationshintergrund, die für ausländische Patienten dolmetschen können. „Man muss es eben nur wissen“, so Gracia Schade.

Wie erging es blinden Menschen während der NS-Zeit? Noch immer herrscht die Sicht vor, dass sie als Behinderte nur Opfer der Nazi-Ideologie gewesen sein konnten. Schließlich müssten sie doch als „unwertes Leben“ angesehen worden sein. Dass dies nicht für alle galt, dass es sogar Betroffene gab, die sich aktiv am System beteiligten, hat die Wissenschaftlerin Barbara Hoffmann am Beispiel der österreichischen Ostmark erforscht. Veronika Schmidt zitiert in Die Presse vom 8. August 2010 Hoffmann:

„Häufig werden Menschen mit Behinderung als passive Objekte von Fürsorge gesehen, aber sie waren zum Teil auch aktive Beteiligte.“ Die schon vor dem „Anschluss“ bestehende „Zweiklassengesellschaft“ zwischen Kriegsblinden und Zivilblinden zieht sich durch die NS-Zeit – nur dass eine dritte Gruppe dazu kam: Blinde jüdischer Herkunft. Sie sind generell zu den Opfern zu zählen:„ Viele kamen nach Theresienstadt. Das Schicksal dieser Menschen ist sehr berührend.“ Teils wurde ihnen im täglichen Überlebenskampf Essen gestohlen, aber es bildete sich auch eine Art Fürsorge, bei der ihnen andere Menschen, die selbst nichts hatten, halfen. Blinde Menschen nicht jüdischer Herkunft waren nur dann für das NS-System „etwas wert“, wenn sie arbeiten konnten. (…) Der Kriegsblindenverband war in der Ostmark gut organisiert, die Funktionäre haben die NS-Ideologie verbreitet, aus dem Ersten Weltkrieg Erblindete waren eingebunden in die Rehabilitation der im Zweiten Weltkrieg erblindeten Soldaten. Manche fungierten gar als Gauredner – direkte Beteiligung am NS-System.

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie von mir via Twitter.

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