Die Botschaft Braille

Hannover war am vergangenen Wochenende Gastgeber des Louis-Braille-Festivals der Begegnung. Zum ersten Mal hatte der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) ein Kunst- und Kultur-Event in dieser Dimension ausgerichtet. Mit rund 1600 Besuchern war es ein voller Erfolg. Highlights waren das Musical „Stärker als die Dunkelheit“ und Auftritte der blinden Sängerin Joana Zimmer und eine Lesung der Schauspieler-Legende Mario Adorf.

Auch wir – zwei Kolleginnen und ich – vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg waren dabei: mit einem Aktionsstand auf dem „Markt der Begegnung“. Am Samstag drängten sich die Festival-Besucher an unserem Stand, um Wissensfragen über Hamburg zu beantworten und um über Kopfhörer Stimmen berühmter Hanseaten zu erraten. Hauptpreis war ein Wochenende an der Ostsee, in unserem Aura-Hotel Timmendorfer Strand. Menschen aus Berlin, Bremen, Sachsen, Bayern und Belgien kamen zu uns. Ich traf zufällig Leute, die ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte, und PR-Kollegen anderer Blinden- und Sehbehinderten-Organisationen. Es war wirklich ein Festival der Begegnung.

Und es war ein Plädoyer für die Blindenschrift. Deren Erfinder Louis Braille wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden. Mit der Tucholsky-Lesung von Mario Adorf und dem blinden Hörbuch-Sprecher Reiner Unglaub wurde die Botschaft Braille für alle sichtbar: ein blinder und ein sehender Leser konnten gemeinsam Literatur erleben und vortragen. Blindenschrift ist der Zugang zu Kultur und Information. Und sie darf nicht durch DAISY-Hörbücher verdrängt werden. Reiner Unglaub erntete großen Applaus, als er sagte, dass wir blinden Menschen uns nicht immer auf eine Krücke verlassen sollten, sondern uns mithilfe von Braille selbst Bücher erschließen sollten. Und die Sängerin Joana Zimmer machte deutlich, wie wichtig für sie die Blindenschrift ist, um ihre Songtexte zu lernen. Schließlich brachte DBSV-Geschäftsführer Andreas Bethke auf den Punkt, was sich viele nicht mehr zu sagen trauen: Egal ob als Kind, Jugenllicher oder Späterblindeter, Blindsein ist kein Grund, nicht zu lesen. Braille ist lernbar. Und Braille darf auch zukünftig nicht unter die Räder von DAISY und PC-Sprachausgabe geraten. Es muss gesichert sein, dass das Lehren der Blindenschrift nicht nur an den Sonderschulen, sondern auch bei der inklusiven Beschulung absolute Priorität hat. Schon allein – darauf wies Reiner Unglaub ebenfalls hin – zum Erlernen der Rechtschreibung ist das eigenständige Lesen unabdingbar. Das Festival in Hannover hat gezeigt, auch 200 Jahre nach Louis Brailles Geburt ist seine geniale Erfindung für blinde und stark sehbehinderte Menschen ein unabdingbarer Schlüssel, um in die Mitte unserer sehenden Gesellschaft zu gelangen.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

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