Es war am 16. Oktober 1994. An jenem Sonntag durfte ich erstmals meine Stimme bei einer Bundestagswahl abgeben. Als blinder Bürger war das damals nicht so einfach. Auf dem Papier des Grundgesetzes (Artikel 38) ist die Bundestagswahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Der letzte Punkt galt allerdings nicht für mich. Meine Wahl war nicht geheim. Wie hätte ich den Wahlzettel lesen und meine Kreuze eigenständig machen sollen?
Also musste mir mein Vater helfen. Ich wollte – bitte schließen Sie hieraus nicht auf meine heutigen politischen Präferenzen – die Grünen wählen. Ich war ein bisschen hin- und hergerissen damals. Natürlich vertraute ich meinem Vater, denn: einfach für eine andere Partei zu stimmen, das würde er nicht tun. Ich musste aber auch an seine in den 80er Jahren entstandenen und von der Bild geprägten Vorurteile denken, hatte er mich doch in meiner frühesten Kindheit davor gewarnt, dass die Grünen die Atomkraftwerke abschalten wollten und wir dann wieder bei Kerzenschein statt Elektrolicht beisammen sitzen würden und wir kein TV oder Radio mehr hätten, wenn die Ökopartei an die Macht käme.
Wie dem auch sei. Mein Vater machte für mich die Kreuze und ich musste ihm vertrauen.
Heutzutage – also auch bei der anstehenden Wahl am 22. September – können blinde Menschen geheim wählen. Wir erhalten vom Blinden- und Sehbehindertenverein eine Pappschablone. In diese können wir den Stimmzettel einlegen. An den Stellen, an denen man auf dem Zettel ankreuzen kann, sind Löcher in der Schablone. Neben den Löchern steht eine Nummer bzw. der Name der Partei in Blindenschrift und für sehbehinderte Menschen in Großdruck. Der vollständige Text des Stimmzettels wird auf eine CD aufgesprochen und uns zur Verfügung gestellt. Somit weiß ich, wo ich mein Kreuz machen kann, eigenständig und geheim.
Dieser Text ist mein Beitrag zur Blogparade der Aktion Mensch zum Thema „Wählen mit Behinderung“.
Nachtrag (26.08.2013). Da es hier und bei Facebook in den Kommentaren Kritik daran gab, dass nicht der Staat, sondern die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen vertreiben, hier noch folgende Ergänzung: Stimmzettelschablonen gibt es seit 2002 bei Bundestagswahlen. Es ist rechtlich geregelt, dass die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen erstellen und vertreiben, sozusagen im Auftrag des Staates. Die Kosten für die Herstellung der Schablonen werden den Vereinen durch die Bundesregierung erstattet. Vergleichbare Regelungen gibt es auch auf Landesebene. Ich finde es eher positiv, dass die Selbsthilfe-Organisationen mit dem Thema betraut sind. So ist sichergestellt, dass blinde und sehbehinderte Menschen bei der Entwicklung der Schablonen und bei der Qualitätssicherung beteiligt sind. Weitere Infos finden Sie auf der DBSV-Service-Seite zum Thema „Barrierefrei Wählen“.
Und was wäre ohne diesen Verein? Eigentlich müsste doch der Staat diese Schablonen zur Verfügung stellen.
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Hab das oben auch nochmal im Artikel ergänzt: Es ist so, dass die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen quasi im Auftrag des Staates erstellen und vertreiben.
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