Die Behindertenbewegung in der Empörungsdemokratie: Das Spiel nicht mitspielen

Shitstorms, Hate Speech, Fake News sind Schlagworte unserer Zeit. Nun sind die dahinter stehenden Mechanismen alles andere als neu, in einer vernetzten 24/7-Echtzeit-Kommunikation, in der jeder jederzeit Empfänger und Sender ist und in der die Grenze von Information und Kommentar de facto nicht mehr existiert, sind sie aber deutlich präsenter und wirkungsmächtiger als früher. Hinzu kommen politische, soziale und ökonomische Verwerfungen weltweit, die ein Klima der Empörung begünstigen. Nicht zu Unrecht spricht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen davon, dass wir inzwischen in einer Empörungsdemokratie leben. Der Spiegel widmete diesem Phänomen zu seinem 70. Magazin-Jubiläum gleich eine ganze Titelgeschichte und fragte, ob wir kurz vor einer Revolution stünden.

Parallel hierzu streitet eine, zuletzt wieder sichtbarere, Behindertenbewegung in Deutschland für ihre Rechte. Zuletzt konnte sie Erfolge im Kampf gegen das Bundesteilhabegesetz erzielen. Neben kreativen Protestformen und klassischen Demonstrationen, setzten die Aktivisten auch auf die Möglichkeiten von Social Media und Internet. Es dauerte nicht lang, bis der politische Gegner die Bewegung in die populistische, undemokratische Ecke stellte.

Es ist offensichtlich, dass hier der mehr als begründeten Kritik am Bundesteilhabegesetz der Wind aus den Segeln genommen werden sollte. Eine emanzipatorische Bewegung, die lediglich die Gewährung von Menschenrechten einfordert und sich hierbei auf die UN-Behindertenrechtskonvention beziehen kann, gleichzusetzen mit destruktiven Wutbürgern, war mehr als haltlos.

Unabhängig von diesem Fall muss sich aber die Behindertenbewegung immer wieder selbstkritisch hinterfragen, ob sie sich nicht hin und wieder der Mechanismen der Empörungsdemokratie bedient und somit den Menschen mit Behinderung einen Bärendienst erweist. Exemplarisch kam Denise Linke in der „taz.mit behinderung“ am Beispiel derjenigen, die sich bei Twitter gegen den Begriff Autismus als Schimpfwort wenden, zu folgendem Fazit:

Wir Autisten müssen uns wehren. Wir müssen laut sein und penetrant. Wir müssen uns für unsere Rechte und unsere Sichtbarkeit starkmachen. Keine Frage. Aber vielleicht schaffen wir mehr, wenn wir mit weniger Aggression und mehr Verständnis vorgehen. Nichts liegt mir ferner als victim blaming. Aber wir gehen die Sache falsch an. So kann Aktivismus, davon bin ich überzeugt, nicht erfolgreich sein.

Und auch ich wundere mich manches Mal über die Art und Weise, wie Kritik in den sozialen Medien formuliert wird. Meistens stimme ich mit den inhaltlichen Forderungen der Menschen mit Behinderung sogar überein, aber indem zwecks Pointierung Halbwahrheiten eingestreut werden oder selbst fragwürdige Sprachbilder verwandt werden, machen wir uns unglaubwürdig.

Da wird in einem Tweet pauschal behauptet, die Elbphilharmonie sei nicht barrierefrei, was so einfach nicht stimmt. Es mag Verbesserungspotenzial geben, aber die Tatsache dass es Induktionsschleifen für schwerhörige Menschen, einen rollstuhlgerechten Zugang und ein taktiles Leitsystem für blinde und sehbehinderte Menschen gibt, einfach zu ignorieren, fällt einem schnell auf die eigenen Füße.

Oder bei Facebook wird von Usern die Lebenshilfe als Krebsgeschwür der Behindertenbewegung bezeichnet. Und in der Tat gibt es an ihr allerlei zu kritisieren, nicht zuletzt ihre enge personelle Verquickung mit Politikerinnen und Politikern der großen Koalition, aber „Krebsgeschwür“, sorry. Krebsgeschwüre schneidet man raus, zerstört sie mit Chemotherapie oder Bestrahlung. Man vernichtet sie, damit sie sich im Körper nicht weiter ausbreiten. Ist das eine Sprache, der wir uns, die wir selbst sehr kritisch auf die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung schauen, bedienen sollten? Ich denke nein.

Die Behindertenbewegung hierzulande ist weit davon entfernt, ein empörtes Wutbürgerphänomen zu sein. Im Gegenteil: Ihre Proteste in den letzten Jahren waren kreativ, ihre Forderungen konstruktiv und ihre Argumentation substantiell. Die Stimme der Menschen mit Behinderung muss gerade in Zeiten sozialer Spannungen hörbar sein. Sie kann ihren Teil zu einer menschlicheren Gesellschaft beitragen. Damit das gelingt, muss sie sich aber zwingend bei jeder Aktion, bei jedem Blog-, Facebook- oder Twitter-Post kritisch hinterfragen. Sie sollte tunlichst vermeiden, das Spiel der Empörungsdemokratie mitzuspielen.

Bundestagswahl und Blindheit: Das Kreuz mit der geheimen Wahl

Es war am 16. Oktober 1994. An jenem Sonntag durfte ich erstmals meine Stimme bei einer Bundestagswahl abgeben. Als blinder Bürger war das damals nicht so einfach. Auf dem Papier des Grundgesetzes (Artikel 38) ist die Bundestagswahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Der letzte Punkt galt allerdings nicht für mich. Meine Wahl war nicht geheim. Wie hätte ich den Wahlzettel lesen und meine Kreuze eigenständig machen sollen?

Also musste mir mein Vater helfen. Ich wollte – bitte schließen Sie hieraus nicht auf meine heutigen politischen Präferenzen – die Grünen wählen. Ich war ein bisschen hin- und hergerissen damals. Natürlich vertraute ich meinem Vater, denn: einfach für eine andere Partei zu stimmen, das würde er nicht tun. Ich musste aber auch an seine in den 80er Jahren entstandenen und von der Bild geprägten Vorurteile denken, hatte er mich doch in meiner frühesten Kindheit davor gewarnt, dass die Grünen die Atomkraftwerke abschalten wollten und wir dann wieder bei Kerzenschein statt Elektrolicht beisammen sitzen würden und wir kein TV oder Radio mehr hätten, wenn die Ökopartei an die Macht käme.

Wie dem auch sei. Mein Vater machte für mich die Kreuze und ich musste ihm vertrauen.

Heutzutage – also auch bei der anstehenden Wahl am 22. September – können blinde Menschen geheim wählen. Wir erhalten vom Blinden- und Sehbehindertenverein eine Pappschablone. In diese können wir den Stimmzettel einlegen. An den Stellen, an denen man auf dem Zettel ankreuzen kann, sind Löcher in der Schablone. Neben den Löchern steht eine Nummer bzw. der Name der Partei in Blindenschrift und für sehbehinderte Menschen in Großdruck. Der vollständige Text des Stimmzettels wird auf eine CD aufgesprochen und uns zur Verfügung gestellt. Somit weiß ich, wo ich mein Kreuz machen kann, eigenständig und geheim.

Dieser Text ist mein Beitrag zur Blogparade der Aktion Mensch zum Thema „Wählen mit Behinderung“.

Nachtrag (26.08.2013). Da es hier und bei Facebook in den Kommentaren Kritik daran gab, dass nicht der Staat, sondern die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen vertreiben, hier noch folgende Ergänzung: Stimmzettelschablonen gibt es seit 2002 bei Bundestagswahlen. Es ist rechtlich geregelt, dass die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen erstellen und vertreiben, sozusagen im Auftrag des Staates. Die Kosten für die Herstellung der Schablonen werden den Vereinen durch die Bundesregierung erstattet. Vergleichbare Regelungen gibt es auch auf Landesebene. Ich finde es eher positiv, dass die Selbsthilfe-Organisationen mit dem Thema betraut sind. So ist sichergestellt, dass blinde und sehbehinderte Menschen bei der Entwicklung der Schablonen und bei der Qualitätssicherung beteiligt sind. Weitere Infos finden Sie auf der DBSV-Service-Seite zum Thema „Barrierefrei Wählen“.

Eine andere Liga

Er hat es geschafft. Barack Obama wird Präsident – und die ganze Welt freut sich. Welche Hoffnungen Obama erfüllen wird, das bleibt offen. Und sicher wird auf Euphorie irgendwann Desillusionierung folgen. Nichtsdestotrotz hat Amerika beeindruckend gezeigt, dass es eine funktionierende Demokratie ist und das es in den USA nicht nur christlichen Fundamentalismus und Marktradikalismus gibt. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis in Europa nicht so schnell wieder vergessen wird. Antiamerikanismus ist plump und dumm. Und doch wird er früher oder später wieder aufflammen, wenn Obama international amerikanische Interessen vertritt. Und das wird er tun, das verlangt sein neues Amt, undzwar zurecht. Er wird es charmanter tun als Bush. Politischer Stil ist nicht unerheblich für die Wirkung in der Gesellschaft. In Sachen Stil verkörpert Obama den besonnenen, aber notwendigen Wandel. Gut denkbar, dass er die USA ökonomisch und militärisch stärken wird. Das wird für Europa nicht immer einfach sein.

Und Obama hat neue Maßstäbe an Politik-Performance gesetzt. Man denke nur an seine großartigen, perfekten Reden, das bewegende Timbre in seiner Stimme, seine empathische Wortwahl. Und vom PR-Standpunkt aus waren seine Wahlwerbespots berauschend. Der 30-Minuten-Spot zur Primetime war einzigartig. Stefan Niggemeier spricht zurecht von der Mutter aller Wahlwerbespots.

Aber gut, medial sind uns die Vereinigten Staaten ohnedies weit überlegen. Wer heute Nacht gezappt hat, konnte bei CNN Wahlbericht-Erstattung sehen, die spannend und professionell war wie Sport-Berichte, ohne dabei niveaulos zu sein. Im Ersten dagegen konnte man Monika Lierhaus im inhaltsleeren Plausch mit Tom Buhrow sehen, der sich nostalgisch seiner Highschoolzeit im Wisconsin der späten 70er Jahre erinnerte und riet, ein Land nie nach dessen Regierung zu beurteilen. Schließlich hätten wir Deutschen ja in den 30ern auch eine merkwürdige Regierung gehabt. – hm, hatten wir diese nicht mehrheitlich gewählt? – Und das ZDF brachte passend zu Tageszeit konsequent Programm zum Einschlafen. Vielleicht mögen ja unsere Politiker und TV-Schaffenden auch einmal von Amerika und Obama lernen. Zumindest unterhaltsamer wären Wahlen und Medien dann.

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