Er schafft es immer wieder, mich zu überraschen, dieser Thomas Mann. Kürzlich bekam ich „Der Erwählte“ aus der Blindenschrift-Bücherei zugesandt. Die späte Erzählung stammt aus dem Jahr 1951. Eine Inhaltsangabe finden Sie bei Wikipedia. Ich möchte hier nur ein wenig die Werbetrommel für dies weniger bekannte Meisterwerk rühren. Wie gekonnt der Autor eine mittelalterliche Erzählung ausschmückt und ironisiert, ohne ihren religiösen und menschlichen Kern zu zerstören, das ist virtuos und zeitlos. Eine pathetische Geschichte von Inzest, Sünde, Selbstbetrug, Schuld, Buße und Vergebung wird durch den Mann’schen Erzählstil zu einer leichten Lektüre voller nachdenklicher Schmunzler und elementarer Gedanken über Moral und Religion. So zum Beispiel, als Sibylla – die einst ein Kind von ihrem Bruder bekam und unwissentlich nun dieses Kind heiraten möchte – zur heiligen Maria betet:
Des ist mein Herz von Zweifel voll und zage, ob ich’s dürfen soll. Nun ledige du meinen Geist, den du in Ängsten weißt, und hilf mir zu Gottes hulden ohn Achtung meiner Schulden! Du bist des Obersten Kind, wie alle Wesen sind, und bist doch seine Mutter, darum so tut er jedes, was du ihm sagst und ihn bedeuten magst. Ein Teil du mir’s schuldig bist, sag ich mit Frauenlist, dass du mir hilfst bei Gott, weil um der Sünder Not er in deinen reinen Bauch kam und dich zur Mutter nahm. Hätte nie niemand Sünd begangen, so wär das unergangen, was Gott mit Dir getan, hättest nicht ewiges Lob empfahn.
Lieber Herr Kunert, danke für die schöne Beschreibung! Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber so frisch und klug wie Sie hätte ich Thomas Manns Roman nicht zusammenfassen können. Ich lese den Erwählten gerade mit meiner Deutschklasse. Es macht großen Spaß. Wir haben zuvor die mittelalterlichen Vorlagen gelesen (Hartmann von Aues Gregorius und anderes). Liebe Grüße nach Hamburg! Ich wünsche Ihnen viel Freude an Ihrer Arbeit und bei Ihren Lektüren!
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