Drei Stunden sprach er, ohne Pause, voller Energie, bissigem Humor und Menschlichkeit. Christoph Schlingensief war vergangenen Samstag im Thalia Theater. Der Abend, der als Lesung angekündigt war, entpuppte sich als Rund-um-Schlag. Schlingensief erinnerte sich und seine Fans an seine ersten kontroversen Filme der 80er Jahre, an den Wahlkampf mit Chance 2000 und an seine Jahre bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Dieser Rückblick war sehr unterhaltsam, zum Beispiel als Schlingensief aus Briefen von Gudrun Wagner vorlas, in denen sie von ihrer eitrigen Zahnwurzel-Entzündung fabulierte. Aber der Abend hatte auch etwas von einem Resümée am Ende eines Künstler-Lebens. Hier wurde ein Vermächtnis formuliert. Christoph Schlingensief ist schwer krebskrank.
Schon mit seiner Kirche der Angst verarbeitete Schlingensief seine lebensbedrohliche Krankheit offensiv. Das tat er auch am Samstag. Er berichtete über Metastasen, die sich plötzlich bilden und sich wieder zurückbilden, von starken Medikamenten, die Impotenz verursachen, von seiner verzweifelten Wut. Krebskranke Menschen sind keine nette Abendgesellschaft, mit der man Spaß hat. Dennoch plädierte Schlingensief eindrücklich dafür, schwer kranke Arbeitskollegen oder Bekannte zu besuchen, ihnen zuzuhören, für sie da zu sein. „Wir lieben das Leben!“, so Schlingensief, der glaubt, dass es im Himmel nicht so schön sein kann wie hier auf Erden.
Schlingensief hat einen Traum, aus dessen Verwirklichung er Kraft schöpft: Er möchte in Afrika, voraussichtlich in Burkina Faso, ein Festspielhaus bauen. Seine Vision: ein Ort, an dem die Bevölkerung ihre Kunst entwickeln, umsetzen und online archivieren kann, so dass auch wir sie im Netz sehen und von ihr lernen können. Zurzeit sammelt er Gelder für seine Idee. Diesem Zweck diente auch die Lesung im Thalia Theater. Und wenn ich die vielen Menschen, die nach der Veranstaltung 50-Euro-Scheine in Briefumschläge packten, richtig deute, ist eine Verwirklichung des Festspielhauses Afrika sehr wahrscheinlich. „Kommt doch auch mal nach Burkina Faso, wenn wir dort kleine Pensionen haben“, sagte Christoph Schlingensief zu Anna und mir beim Signieren seines Buches. „Sind nur sechs Stunden von Paris aus.“ Wir im Westen reflektierten nur noch uns selbst. Stattdessen sollten wir uns besser anderen Kulturen und Schöpfungsprozessen öffnen.
Ich wünsche mir, dass Schlingensief für diese Idee noch lange wird streiten können und dass wir ihn in Burkina Faso wieder treffen.
Mit dem Paradies wurden schon so viele betrogen, daher liegt Christoph Schlingensief genau richtig, wenn er sich an das Leben hält.
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