Es stand in meinem Regal, ganz oben, unter der Decke, Staub auf dem Deckelrand und auf den von Punkten dicken Seiten. Der Zufall – die Suche nach einer vorlesbaren Kurzgeschichte – ließ es mich herausgreifen. Vor zehn Jahren hatte ich das Buch gekauft, auf eine Anregung meines Oberstufenlehrers hin. Interessant, politisch, ostdeutsch, so fand ich es damals. Nach der Lektüre einiger Texte hatte ich den Band weggestellt und nicht wieder angerührt. Und was finde ich da heute? Doppelbödige, verstörende Literatur. Sie kommt in schlichter Sprache, beinahe nachrichtengleich daher. Nach der Hälfte merkt der Leser, dass es hier Geschichte – historische wie persönliche – in der Geschichte gibt. Und am Ende bleibt man nachdenklich zurück, voller Fragen nach Gerechtigkeit, Lebenssinn und Selbstbestimmung. So ist es zum Beispiel, wenn Käthe am Ende von „Jelängerjelieber Vergißnichtmein“ – nach einem zerrütteten Elternhaus, nach unglücklicher eigener Ehe, nach dem Tod ihres Mannes und nach dem Verlust ihrer lebenslangen Affäre – sagt: „Soviel Glück, wie ich hatte, kann man nicht zweimal in seinem Leben haben.“ Christoph Heins kluge Geschichten sind keine leichte, aber eine lohnende Kost. Und sie zeigen mir, dass manche Bücher einige Jahre reifen müssen, bevor sie ihren vollen Geschmack entfalten können.
Wenn Sie, geneigter Leser, geneigte Leserin, mit einem Buch ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder Sie Ihre Meinung zu Christoph Hein kundtun möchten, dann hinterlassen Sie gern einen Kommentar.