Eine verbitterte Generation

Während die vergangene Woche musikalisch maßgeblich von Madsen dominiert war, laufen in dieser Woche überdurchschnittlich häufig Kettcar beim Schreiber dieser Zeilen. Das hat nicht nur mentale Gründe, sondern ist auch dem Fakt geschuldet, dass Kettcar am vergangenen Freitag mit „Sylt“ ihr drittes Album veröffentlicht haben. Anlässlich des Releases geben die Jungs zurzeit ihr letztes von sieben Konzerten in ihrer Heimatstadt – angefangen mit dem winzigen Hafenklang, einem An-Deck-Konzert auf der über die Elbe schippernden MS concordia, dem Molotow, bis zu den größeren Clubs Knust, Docks, Fabrik und Markthalle.

Sarah und ich waren am Dienstag im Docks dabei. Kettcar warnten ihr Publikum mehrfach: „Zieht nicht nach Berlin!“ Wohl um ihre Worte zu unterstreichen, hatten sie die Berliner Wave-Recken Delbo eingeladen. Ich habe lang nicht mehr eine so furchtbare, unmotivierte Vorband gesehen, geschweige denn einen so schlechten Sänger gehört. Während also ein Hauch von Kreuzberg über der Docks-Bühne hing, standen 1300 Hamburger gelangweilt in der Gegend herum oder rempelten mich pöbelnd und schroff von hinten an. Und ich dachte, was wird das bloß für ein übles Konzert? Ich hatte doch das neueste Kettcar-Album bereits gehört, das vor Verbitterung nur so strotzt. Aus ihm tropft die Enttäuschung der Ü30er, die nicht im ordentlichen, bürgerlichen Leben angekommen sind. Es quietscht, ist kantig, verstörend gut. Und die Jungs scheinen etwas anzusprechen. Sieben ausverkaufte Konzerte und die ersten Verkaufszahlen sprechen für sich. So erlebe ich das Paradoxe: spielfreudige, gutgelaunte Musiker bringen die von Delbo geschockte Masse mit „Deiche“ von null auf hundert. 1300 Menschen machen Lärm wie auf einem Tokio-Hotel-Konzert, singen selbst die neuesten Songs schon lauthals mit. Band und Publikum freuen sich zusammen, dass sie die Enttäuschungen des Lebens in Musik aufgehen lassen können. Und endgültig Gänsehaut ist angesagt, als wir nach dem Gig vor das Docks treten. Da stehen Kettcar open-Air auf leeren Astra-Kästen auf dem Spielbuden-Platz, ohne Verstärke, und spielen Landungsbrücken und noch vier Songs mehr und wir ganz vorn. Und alle singen so gut sie können, während der Frühlingsabend uns umgibt, eng zusammen gedrängt: „Dieses Bild verdient Applaus!“ Eine verbitterte Generation sieht anders aus.

Links zum Thema

Die TAZ sieht das ganz anders: http://www.taz.de/regional/nord/hamburg/artikel/?dig=2008%2F04%2F24%2Fa0033&src;=UA&cHash;=435360905a

Offizielle Kettcar-Site: http://www.kettcar.net/

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

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