Musik: Mein Leben in 25 Songs

Musik-Sammlungen sind eine Reise durch das eigene Leben. Das fiel mir mal wieder auf, als ich mich kürzlich durch meine iTunes-Matsch-Songs klickte und mir zu vielen Liedern eine kleine Geschichte, ein Erinnerungsfetzen oder einfach nur eine Stimmung einfiel. Da kam mir die Idee dieser Liste: mein Leben in 25 Songs:

  1. Ich weiß gar nicht, ob meine Eltern Peter Alexander wirklich mochten, ob sie ihn hörten, als ich im Bauch meiner Mutter und danach in den 70er Jahren in Wanne-Eickel aufwuchs, aber er erinnert mich bis heute an meine Kindheit.
  2. Ich war frisch erblindet. Da landete die blinde Soul-Legende Stevie Wonder mit „I just called to say I love you“ einen Mega-Charterfolg. Mein Freund Tobi und ich liebten den Song, aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Damals wollten wir so werden wie Stevie. Blind waren wir ja immerhin schon.
  3. Ich war zwölf. Da schleppten meine großen Brüder eine Kassette an. Auf der waren zwei Ärzte-Alben. Die Musik und die Texte hatten etwas Wildes, Verbotenes, Lustiges. Ich fuhr damals jeden Tag mit dem Schulbus aus dem Niedersächsischen Hechthausen zur Blinden- und Sehbehindertenschule nach Hamburg. Auf der Fahrt hörten wir immer wieder die Ärzte über unsere scheppernden Walkmen. Danach sollte mich die „beste Band der Welt“ rund 20 Jahre begleiten.
  4. Mit knapp 14 Jahren ging es ins Internat. Täglich vier Stunden im Schulbus vertrugen sich nicht mit Nachmittagsunterricht am Gymnasium und immer mehr Hausaufgaben. Im Blindenjugendheim hörten wir eigentlich ständig Musik. Wenn nicht Okay-radio – das war Anfang der 90er in Hamburg das Größte – lief, hörten wir Kuschelrock, Techno oder Hiphop. Besonders hoch im Kurs stand unter der pubertierenden männlichen Jugend die 2-Live-Crew.
  5. 1995 war ich zum ersten Mal in England – Klassenfahrt in der Zehnten. Wir waren bei dubiosen Gastfamilien untergebracht, bei denen 24 Stunden am Tag der Fernseher lief und alle Familienmitglieder – von Kind bis Großvater – in hektischen Aufruhr gerieten, als die Fernbedienung verloren ging. London ist mir seitdem die wohl liebste Stadt. Ich habe sie seitdem etliche Male wieder besucht. 1995 nahm ich die Fools-Gold-Single-CD der Stone Roses als Erinnerung mit nach Hamburg.
  6. Apropos, Urlaub: Gut ein Jahr später luden mich mein Lieblingsonkel und meine Lieblingstante zu einer dreiwöchigen Reise nach Kanada ein. Noch heute erinnere ich mich lebhaft an das enorm laute Rauschen und an die Gischt der Niagara-Fälle, an das ungewohnte Pfeifen der Vögel und das laute und raue Quaken der Ochsenfrösche im Nationalpark und an die Unmenge an Verwandten, die man der Einfachheit halber allesamt als Cousins und Cousinen bezeichnete. Im Radio, im Auto und im Zimmer des damals vielleicht 12jährigen Clifton liefen Oasis mit „Don’t look back in anger“ rauf und runter.
  7. Die Zeit zwischen 1994 und 1999 kann mit Fug und Recht als wild bezeichnet werden, war ich doch 1993 in eine Außenwohngruppe des Blindenjugendheims gezogen. Vier junge Erwachsene in einer- von Erzieher-Seite wenig kontrollierten – WG. Sie können sich das ungefähr vorstellen. Die WG hieß im Freundeskreis bald nur noch „der Club“, und sie war eine beliebte Anlaufstelle für alle, die noch Zuhause lebten und unter Aufsicht der Eltern wenige Freiheiten genossen. Sprich: Die Bude war voll, die Musik war laut, was der bürgerlichen Winterhuder Nachbarschaft wenig gefiel, so dass diese regelmäßig schimpfend vor unserer Tür stand oder gleich die Polizei schickte. Verständlich, war doch Marcus Wiebusch damals noch nicht bei der Kettcar-Ruhe heutiger Tage angekommen, stattdessen machte er mit But Alive Punk und mit den damals noch großartigen Rantanplan Ska.
  8. Wenn uns die politische Wut damals verließ, dann blieb uns immer noch der phlegmatische Weltschmerz von Tocotronic, drückten die Songs doch wirklich ein Lebensgefühl aus, mit dem wir uns damals wahrlich identifizierten. Besondere Highlights waren die Toco-Konzerte in der großen Freiheit oder der Markthalle – auch wenn wir uns danach häufig nur noch an den Hinweg erinnern konnten.
  9. Gern denke ich auch an unsere Gruppenfahrt in der Oberstufe zurück. Während die drei anderen Tutanden-gruppen in die Toskana fuhren, um dort einen Kulturschatz nach dem Anderen zu besichtigen, konnten wir unseren Tutor überreden, mit uns nach Korsika zu fahren – mit Rainbow-Tours. Irgendwie haben wir das mit der historischen Bedeutung der Insel und mit Napoleon begründen können, am Ende wurden es aber vor allem Strandtage und Abende mit Wein aus fünf-Liter-Kanistern. Erstaunlich, woran man sich manchmal so erinnert: Auf der Rückfahrt hab ich wohl etwas laut Nine Inch Nails über Kopfhörer gehört, zumindest bat mich mein Tutor, den Krach leiser zu drehen.
  10. Aber es musste nicht immer laute Musik sein. Großer Beliebtheit erfreute sich damals auch der Bayerische Rebell Hans Söllner. Um seine bitter-bösen, pazifistischen Texte zu verstehen, musste man sich auf das Bayerische einlassen, dafür taten wir es aber gern.
  11. 1998 ging es an die Uni zum Studium der politischen Wissenschaften. Damals studierte man noch auf Diplom. Man brauchte – wenn ich mich richtig erinnere – fünf Hauptfach-Scheine für das Vor-Diplom und weitere vier im Hauptstudium. Wenn ich heutigen Bachelor-Studierenden erzähle, dass uns in der Einführungswoche empfohlen wurde, im ersten Semester nur die Einführungsvorlesung und den Grundkurs zu besuchen (sprich: drei mal 90 Minuten pro Woche) – „Für das Nebenfach habt Ihr doch später noch Zeit.“ –, dann habe ich fast ein schlechtes Gewissen. Aber: Wir hatten viel Zeit, über den Tellerrand zu schauen, Seminare und Vorlesungen zu besuchen, weil uns die Themen interessierten und nicht weil wir sie erfolgreich abschließen mussten, und wir hatten Zeit für Politik und für Freunde und für die legendären Joint-Venture-Konzerte – mit dem viel zu früh verstorbenen Kleinti – im Hamburger Logo.
  12. Ich war in meinem bisherigen Leben erst einmal zum Fasching oder Karneval in einer der Hochburgen. 1999 machten meine Freunde Rheinhold, Michi und ich einen Rosenmontagsausflug nach Mainz. Ich fand es gar nicht so schlimm wie ich es mir vorgestellt hatte. Warum ich das aber eigentlich erwähne? Ich habe damals (nicht auf der Faschingsfeier, sondern bei einer Freundin unserer Gastgeberin) zum ersten Mal Manu Chao gehört. Diese originelle, einzigartige Musik begleitet mich bis heute.
  13. Damals hörte man Hiphop, deutschen Hiphop. Und der war – anders als bei den Fantastischen Vier – entweder voller Wortwitz wie bei den absoluten Beginnern oder Fünf Sterne Deluxe oder er war radikal-politisch wie bei Freundeskreis.
  14. Im Sommer 2000 ging es zu einem Marxismus-Kongress nach London. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, mit welch einer Überzeugung damals auf den Podien vertreten wurde, dass die sozialistische Weltrevolution unbedingt nötig sei und – was noch erstaunlicher ist – dass es überall deutliche Zeichen gäbe, wonach ein Ende des Kapitalismus auch von der Mehrheit der Menschen gewollt sei. Dennoch waren es spannende Tage, die ich schon allein deswegen nicht missen möchte, weil ich damals (besser spät als nie) zum ersten Mal David Bowies Ziggy-Stardust-Album gehört habe.
  15. Anfang der 2000er hörte man noch Mixtapes. Und man nahm sie regelmäßig auf, um sie auf Partys zu spielen, um sie Freunden zu schenken oder um Frauen zu erobern. In der Küche der damaligen Freundin lagen einige wenige Mixtapes, die so häufig liefen, dass sie mir manch einen Ohrwurm einbrachten, so wie diesen von den Counting Crows.
  16. Zu jener Zeit war man ständig auf Konzerten (sollte man eigentlich immer noch tun). Besonders gern erinnere ich mich an die Manic Street Preachers in der Großen Freiheit. Die Manics sind bis heute eine meiner absoluten Lieblingsbands.
  17. Und wir gingen tanzen. Besonders beliebt um 2005 war Northern Soul aus den Sixties. Schweißtreibend und ganz hervorragend waren die Shelter-Club-Abende im Molotow, das ja leider kürzlich seine Tore schließen musste.
  18. Ich entdeckte in jener Zeit, wie ergreifend klassische Musik sein kann. Jahrelang hatte ich ein Abo für die Konzerte der Philharmoniker Hamburg. Für mich eröffnete sich dadurch eine ganz neue Perspektive auf klassische Musik. All das, was der Musikunterricht meiner Schulzeit zerstört hatte, musste erst wieder aufgebaut werden. Lässt man sich aber auf Werke von Mozart bis Henze ein, ist das enorm bereichernd. Wegen seiner Klarheit und Schönheit wurde Brahms mein absoluter Favorit.
  19. 2007 starb mein Vater, den ich in den Jahren zuvor viel zu selten getroffen oder angerufen hatte. Das war eine schwierige Zeit, in der mir zum Glück die wunderbare Julia und der famose Johnny Cash zur Seite standen. Zum einen war mein Vater zu Lebzeiten Country-Fan gewesen, zum anderen spendeten mir gerade die christlichen Songs von Johnny Cash Trost.
  20. „Wir sind Helden“ haben mich – wie viele andere Menschen meines Alters – durch das erste Jahrzehnt dieses Jahrtausends begleitet. Gesellschaftskritisch, aber nicht mit dem Vorschlaghammer -, emotional, sprachlich grandios und psychologisch einfühlsam. Mehrfach habe ich die Band live gesehen, so einmal bei einem Benefiz-Konzert im Docks und einmal open air im Hamburger Stadtpark.
  21. Turbulent war es zwischen 2006 und 2008. Das Studium war erfolgreich abgeschlossen, eine sechsjährige Beziehung war in die Brüche gegangen. Ich kellnerte ein wenig im Dunkel-Restaurant Unsicht-Bar und war auf der Suche nach einem Vollzeit-Job. Diesen fand ich im Sommer 2007 beim Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg – welch großes Glück! Emotional waren jene Jahre eine Achterbahnfahrt, die musikalisch vom sentimental-absurden Funny van Dannen
  22. Bis zu den lauten Songs von Madsen mit ihren einfachen Botschaften reichten.
  23. Im Sommer 2008 begann ich mit dem Theater-Spielen, was ich bis heute tue. Bei den Proben von „Blindfische und Sehfische“ lernte ich meine heutige Freundin, die bezaubernde Anna kennen. Und mit ihr zusammen lernte ich – dank eines Kampnage-Newsletter-Gewinnspiels – den großartigen Micah P. Hinson kennen.
  24. Auch schon seit etlichen Jahren begleiten mich die bewegenden, manchmal auch einfach komischen Songs von Element of Crime. Ich habe nur von wenigen Bands die vollständige Discographie, aber bei EoC ist sie ein Muss.
  25. Und nun bin ich beim Heute angekommen. Während ich hier schreibe, zupft Anna im Nebenzimmer auf ihrer Gitarre. Seit einigen Jahren hat sie das Musizieren wieder für sich entdeckt, zum Glück – bei der wunderschönen Stimme.

Soweit mein musikalischer Trip durch mein bisheriges Leben. Ich bin ja nicht so der klassische Stöckchen-Zuwerfer, aber wenn Sie einen Blog haben und meine Idee aufgreifen möchten, dann posten Sie doch auch einmal Ihre Lebenssongs. Und wenn Sie Ihren Post hier in den Kommentaren verlinken, würde mich das sehr freuen. Spontan fallen mir Christian, Isa, Julia, Katrin und Mark ein, denen ich hiermit ein „Mein Leben in … Songs“-Stöckchen zuwerfe.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

5 Kommentare zu „Musik: Mein Leben in 25 Songs“

  1. Ups. Danke, ich versuch’s! Allerdings wahrscheinlich nicht mehr vor Weihnachten. Es wird auch schwierig, weil ich in Musik irgendwie ein Spätzünder bin. Aber dann werden es halt vielleicht nur 20, macht ja auch nix.

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  2. Du meine Güte, was ist das denn für ein Link da hinter meinem Namen! Die „redereihamburg“ ist ja schon seit Jahren tot. Ich versuch’s noch mal.

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  3. Was für eine wunderbare Idee. Ich glaube, ich versuch’s auch mal. Müsste ich eigentlich hinkriegen, schließlich ist mein Musik-Hör-Leben schon ziemlich lang. Deine Geschichten zu den Songs finde ich sehr lesenwert und teilweise anrührend. Danke dafür.

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