Perspektiven (13): „Trotz langjähriger Praxis noch nie gesehen“

Die Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sind in der vergangenen Woche eskaliert. Dabei riskierte die Polizei offenbar die Gesundheit der Protestierer. Die Stuttgarter Nachrichten berichten von zwei Personen, die von Erblindung bedroht sind. Konstantin Schwarz und Wolf-Dieter Obst zitieren am 4. Oktober einen behandelnden Arzt:

„Ein Wasserwerfer kann einen Menschen umreißen. Trifft er das Auge, ist dass wie ein stumpfer Schlag“, so Sauder. Das Auge könne dabei aufreißen. Auch die Blutgefäße im Auge können reißen. Es droht grauer Star, auch eine Netzhautablösung ist möglich. Verletzungen wie am Donnerstag, als noch fünf weitere Fälle ambulant zu behandeln waren, habe er trotz langjähriger Praxis „noch nie gesehen“, sagt Sauder, die Auswirkungen von Reizgas dagegen schon oft. Das Spülen des Auges mit sauberem Wasser sei gegen Pfefferspray oder Reizgas hilfreich. Diese Mittel seien aber „extrem unangenehm und schmerzhaft“, so Sauder, eine Augencreme könne helfen.

Peter Eisenach ist vor der Wende erblindet. Sein Bild von Berlin ist ostdeutsch. B.Z.-Journalistin Birgit Bürkner widmete Eisenach einen kurzen Text zum 3. Oktober:

In Peter Eisenachs (46) Welt ist die Oberbaumbrücke noch unpassierbar, hinter dem Brandenburger Tor steht die Mauer, das Warenhaus am Alexanderplatz trägt rot-weiße Waben, die Altbauten am Hackeschen Markt sind schlammfarben. Das Berlin der deutschen Einheit hat der ehemalige Zerspanungs-Facharbeiter aus Prenzlauer Berg noch nie gesehen. Kurz vor der Wende erblindete er. „Aber die alten Bilder aus Kindheit und dem frühen Erwachsenenalter haben sich mir eingebrannt. Die kann ich nicht vergessen“, sagt er. Eisenach lebt – rein visuell – in dem, was er zuletzt erblickte: Berlin, Hauptstadt der DDR, Ende der Achtziger!

Amene Bahrami verlor ihr Augenlicht durch einen Verehrer. Die Iranerin hatte ihn mehrfach zurückgewiesen. Er verätzte ihre Augen nach zwei Jahren erfolglosen Stalkens mit Säure. Jetzt will sie Gleiches mit Gleichem vergelten – und das archaische Rechtssystem des Gottesstaates ermöglicht ihr diese Rache. Annette Langer hat die junge Iranerin für Spiegel Online getroffen:

„Es geht mir nicht um Vergeltung, es geht um Abschreckung“, sagt Bahrami, die selbst tief gläubig ist. Jeden Tag würden in Iran Frauen eingesperrt, vergewaltigt und mit dem Tode bedroht, ihre eigenen Männer behandelten sie wie Dreck. „Leute wie Madschid Mowahedi sollen wissen, dass sie so etwas nie tun dürfen, dass es Frauen wie mich gibt und dass wir nicht wenige sind.“ Eindringlich fordert sie ihre Geschlechtsgenossinnen auf, nicht klein beizugeben. „Wenn sie nicht kämpfen, werden sie enden wie ich.“

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg via Twitter.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

2 Kommentare zu „Perspektiven (13): „Trotz langjähriger Praxis noch nie gesehen““

  1. Den zweiten Bericht über den kurz vor der Wende erblindeten Eisenach fan dich interessant. Ich kann mich erinnern so etwas Ähnliches schon mal gehört zu haben, von einem Bekannten, für dessen Onkel Autos immer noch aussehen wie in den Siebzigern, weil er da erblindete (und anscheinend ein Faible für Autos hatte). Das sind so die kleinen Details des Selbstverständlich-sehen-könnens, die einem gar nicht bewusst sind – bis man daran erinnert wird!

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