Der Spiegel und die Behinderten: Sprecht mit uns, nicht über uns!

In dieser Woche fanden sich gleich zwei Artikel im Spiegel, die sich mit dem Thema Behinderung befassten. In dem einen ging es um inklusive Beschulung behinderter Kinder, im zweiten um die Orientierung Blinder mithilfe von Schnalzlauten. Zunächst ist es bemerkenswert, dass Deutschlands führendes Nachrichten-Magazin sich überhaupt mit der Lebenssituation behinderter Menschen befasst. Sind doch die 15% der Weltbevölkerung, die eine Behinderung haben, im Spiegel stark unterrepräsentiert. Dass also berichtet wird ist positiv, wie berichtet wird ist aber fragwürdig.

In beiden Artikeln wird primär über uns gesprochen, nicht mit uns. Dies gilt insbesondere für den Artikel zur Inklusion. Eltern kommen zu Wort, die das Beste für ihre behinderten Kinder wollen. Schulleiter, Lehrer und Sozialpädagogen tauchen auf. Die Kinder mit Behinderung erscheinen als Objekte – Objekte einer UN-Konvention und einer verfehlten Schulpolitik. Warum berichtet keines der Kinder, wie es sich in der Schulklasse fühlt? Warum werden sie nicht gefragt, was sie sich von Lehrern und Politik wünschen? Warum werden die Defizite der behinderten Schüler so ausführlich thematisiert, warum die Probleme beim Realisieren von Inklusion – die es ohne Zweifel gibt – dargestellt, aber die großen Chancen von Inklusion für die ganze Gesellschaft kaum gewürdigt?

Und auch der Bericht über die Orientierung Blinder nimmt vor allem die Perspektive von Eltern ein, die ihren behinderten Kindern ein möglichst hohes Maß an Selbstständigkeit bieten möchten. Weil Frühförderung und Sonderschulen die Orientierung via Schnalzen und Echo immer noch unterschätzten, müssten engagierte Eltern die Sache selbst in die Hand nehmen. Im Prinzip ist da was dran. Nur greift die Spiegel-Kritik aus einem Punkt zu kurz. Blinde Menschen, die diese Form der Orientierung nicht beherrschten, erscheinen im Text als unselbstständig. Sie würden immer die selben Wege gehen, z. B. zur Arbeit und zurück nach Hause. Eigenständige Wanderungen durch die Berge oder das selbstständige Fahren mit dem Mountainbike blieben ihnen verschlossen. Na, und? Wer sagt denn, dass jeder blinde Mensch das möchte? Wer sagt denn, dass blinde Menschen weniger glücklich sind, die sich nicht via Echo-Orientierung bewegen? Keine Frage: Jeder von uns, der diese Orientierungstechnick erlernen möchte, sollte die Chance dazu haben. Je früher dies im Kindesalter trainiert wird, desto besser. Pauschale Urteile darüber, was behinderte Menschen benötigen und was nicht, sind aber schwierig. Zumal im Text jeder Hinweis darauf fehlt, dass ein steigender Anteil der blinden Kinder noch weitere geistige und/oder körperliche Behinderungen hat und dass die allermeisten Erblindungen erst im Seniorenalter eintreten.

Zentrale Elemente der UN-Behindertenrechtskonvention sind Inklusion und Selbstbestimmung. Behinderte Menschen können in der Regel am besten beurteilen, was sie benötigen und was nicht. Und sie sollten den Platz in der Gesellschaft erhalten, der jedem Bürger zusteht: in der Schule, im Berufsleben und in den Medien. Wenn ich mir etwas vom Spiegel und den Medien wünschen dürfte, dann wäre es dies: Sprecht mit uns, nicht über uns. Stellt Redakteure mit Behinderung ein. Betont nicht nur die vermeintlichen Defizite Behinderter, sondern zeigt den Menschen mit all seinen Schwächen und Stärken. Dann wären wir dem Ziel Inklusion ein gutes Stück näher gekommen.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

3 Kommentare zu „Der Spiegel und die Behinderten: Sprecht mit uns, nicht über uns!“

  1. Mit dem Beitrag von Heiko ist eigentlich alles gesagt. Man könnte nur ein ewig lange Liste von Artikeln von Spiegel und anderen Medien ergänzen, in denen gutmeinende aber ahnungslose Journalisten etwas zum Thema Behinderung schreiben:
    Nur zwei aktuelle Beispiele:

    http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/0,1518,767102,00.html
    Da fand sich der Satz: „Wer ganz selbstverständlich seinen Whopper bei einem Menschen mit Down-Syndrom kauft, der hat weniger Vorurteile gegenüber dieser Krankheit.“ Krankheit! Wie ich gerade sehe, haben sie den Satz geändert, nachdem ich ihn im Forum angemäkelt hatte. „gegenüber dieser Krankheit“ haben sie dann einfach weggelassen (ohne dass sie die Korrektur als Update kenntlich gemacht hätten).

    http://www.news.de/gesellschaft/855191961/behinderte-zeigen-wo-s-lang-geht/
    Hier schreibt eine Journalistin: „Doch statt isoliert und ausgegrenzt in einer Behindertenwerkstatt geparkt zu werden, haben sie hier im Klinikum eine echte Aufgabe.“ Wieder das gleiche Phänomen wie in Heikos Darstellung. Um die Vorteile der Inklusion zu betonen, wird einfach was bestehendes niedergemacht – ohne dessen Qualität wirklich beurteilen zu können, ohne mit den Menschen dort jemals gesprochen zu haben, wie sie sich in einer Werkstatt fühlen.

    Beispiele gibt es also endlos viele. Ich glaube nicht, dass es hilft, solche Berichte nur noch von Menschen mit Behinderung verfassen zu lassen – sonst dürften demnächst nur noch Tenöre Opernkritiken verfassen. Und dann dürften Menschen mit Sehschwächen nicht mehr über Menschen mit geistiger Behinderung schreiben, Rollstuhlfahrer nicht mehr über Gehörlose etc.pp.
    Die verdammte Pflicht von Journalisten ist es, korrekt zu recherchieren und angemessen zu formulieren, egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Daran müssen sie aber offensichtlich öfter erinnert werden.

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