Christian de Vries kenne ich schon seit einigen Jahren, besser gesagt: wir folgen uns seit einigen Jahren bei Twitter. Der Kommunikationsprofi hat ein lesenswertes Blog und ist inzwischen Manager Social Media bei der Online-Apotheke DocMorris.
Im DocMorrisBlog hat er mich interviewt. Unter der Headline „Barrierefreiheit ist nicht selbstverständlich“ berichte ich über Hürden und Chancen im Web, darüber wie blinde Menschen am PC arbeiten und nenne Positiv- und Negativ-Beispiele rund um Accessibility.
Ich danke Christian für seine Interview-Anfrage und hoffe, dass der Post viele Leser findet.
Es war am 16. Oktober 1994. An jenem Sonntag durfte ich erstmals meine Stimme bei einer Bundestagswahl abgeben. Als blinder Bürger war das damals nicht so einfach. Auf dem Papier des Grundgesetzes (Artikel 38) ist die Bundestagswahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Der letzte Punkt galt allerdings nicht für mich. Meine Wahl war nicht geheim. Wie hätte ich den Wahlzettel lesen und meine Kreuze eigenständig machen sollen?
Also musste mir mein Vater helfen. Ich wollte – bitte schließen Sie hieraus nicht auf meine heutigen politischen Präferenzen – die Grünen wählen. Ich war ein bisschen hin- und hergerissen damals. Natürlich vertraute ich meinem Vater, denn: einfach für eine andere Partei zu stimmen, das würde er nicht tun. Ich musste aber auch an seine in den 80er Jahren entstandenen und von der Bild geprägten Vorurteile denken, hatte er mich doch in meiner frühesten Kindheit davor gewarnt, dass die Grünen die Atomkraftwerke abschalten wollten und wir dann wieder bei Kerzenschein statt Elektrolicht beisammen sitzen würden und wir kein TV oder Radio mehr hätten, wenn die Ökopartei an die Macht käme.
Wie dem auch sei. Mein Vater machte für mich die Kreuze und ich musste ihm vertrauen.
Heutzutage – also auch bei der anstehenden Wahl am 22. September – können blinde Menschen geheim wählen. Wir erhalten vom Blinden- und Sehbehindertenverein eine Pappschablone. In diese können wir den Stimmzettel einlegen. An den Stellen, an denen man auf dem Zettel ankreuzen kann, sind Löcher in der Schablone. Neben den Löchern steht eine Nummer bzw. der Name der Partei in Blindenschrift und für sehbehinderte Menschen in Großdruck. Der vollständige Text des Stimmzettels wird auf eine CD aufgesprochen und uns zur Verfügung gestellt. Somit weiß ich, wo ich mein Kreuz machen kann, eigenständig und geheim.
Dieser Text ist mein Beitrag zur Blogparade der Aktion Mensch zum Thema „Wählen mit Behinderung“.
Nachtrag (26.08.2013). Da es hier und bei Facebook in den Kommentaren Kritik daran gab, dass nicht der Staat, sondern die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen vertreiben, hier noch folgende Ergänzung: Stimmzettelschablonen gibt es seit 2002 bei Bundestagswahlen. Es ist rechtlich geregelt, dass die Blinden- und Sehbehindertenvereine die Schablonen erstellen und vertreiben, sozusagen im Auftrag des Staates. Die Kosten für die Herstellung der Schablonen werden den Vereinen durch die Bundesregierung erstattet. Vergleichbare Regelungen gibt es auch auf Landesebene. Ich finde es eher positiv, dass die Selbsthilfe-Organisationen mit dem Thema betraut sind. So ist sichergestellt, dass blinde und sehbehinderte Menschen bei der Entwicklung der Schablonen und bei der Qualitätssicherung beteiligt sind. Weitere Infos finden Sie auf der DBSV-Service-Seite zum Thema „Barrierefrei Wählen“.
Dr. Johannes Wimmer ist Arzt und im Social Web aktiv. Im Interview mit mir gibt er Tipps zur Arztsuche, spricht über Chancen und Risiken von Diagnosen via Google und über seine Online-Projekte.
Dr. Johannes
Heiko: Immer wieder werden wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg von Augenpatienten gefragt: „Wie finde ich einen sehr guten Augenarzt?“ Wie lautet Deine Antwort?
Dr. Johannes: Jeder Mensch hat unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein sehr guter Arzt ist. Während die meisten Ärzte in Deutschland technisch und medizinisch auf einem hohen Niveau arbeiten, gibt es bei der Kommunikation große Unterschiede. Das liegt wohl auch daran, dass einige Menschen miteinander besser auskommen und andere nicht. Um einen guten Arzt zu finden lohnt es sich, mehrere, aber nicht zu viele Empfehlungen einzuholen. Danach sollte man zu zwei bis drei Ärzten gehen und diese ausprobieren. Am besten wählt man für diesen Probetermin einen Zeitraum, in dem es einem gut geht und man nicht in größter Not ist. So kann man in Ruhe erleben, ob die Chemie nicht nur mit dem Arzt, sondern mit dem gesamten Praxisteam stimmt. Manchmal kann sich aber auch ein Patienten-Arztverhältnis, welches zu Beginn gut war, über die Zeit verschlechtern. Dann sollte man sich trauen, auch einmal einen neuen Arzt auszuprobieren.
Heiko: Krankheiten googeln ist fast schon ein Volkssport – Symptome in die Suchmaschine eingeben, und fertig ist die Diagnose. Ist das Internet aus Mediziner Sicht Fluch oder Segen?
Dr. Johannes: Der Segen des Internets ist die unglaubliche Fülle an Informationen, der Fluch der Onlinemedizin ist die Orientierungslosigkeit. Die Masse an Inhalten der Webseiten kann den Benutzer erschlagen und auf die falsche Spur führen. Die Situation ist für Ärzte und Patienten schwierig, da in kurzer Zeit alle Informationen, die veraltet oder falsch sind, diskutiert werden müssen. Ein weiteres Problem ist, dass im Netz vor allem die schlimmsten Krankheiten und Diagnosen besonders stark vertreten sind. Wenn man abends im Internet nach einer medizinischen Antwort sucht, kann es passieren, dass man die nächsten Nächte nicht mehr schlafen kann und Todesängste durchstehen muss, weil das Internet Horrorszenarien geliefert hat. Ein absoluter Segen des Internets sind die sozialen Medien. Früher war es teilweise sehr schwer, Selbsthilfegruppen zu finden oder in Foren aufgenommen zu werden. Heute ist es leichter geworden, jemanden zu finden, der nicht nur das gleiche Problem hat, sondern sich sogar zum gleichen Zeitpunkt auf der Patientenreise befindet. Das heißt der andere User hat z.B. ebenfalls erst seit ein paar Tagen von einer Krankheit durch seine Ärzte erfahren. Twitter, Facebook, Google+ und die anderen Netzwerke bieten somit vielen Menschen emotionalen Halt und Sicherheit.
Heiko: Ärzte sind im Social Web immer noch eine Seltenheit. Warum hast Du ein Blog und eine Facebook-Seite gestartet und einen Twitter-Account eingerichtet?
Dr. Johannes: Ich wundere mich immer wieder, dass so wenige Ärzte in den sozialen Medien sind. Ich habe eine Vision, Menschen bereits während der Suche bei Dr. Google und auf dem Weg zum Arzt zu unterstützen. Über Twitter und Facebook kann ich schon mit kleinen Tipps und Tricks, den richtigen Fragen und Informationen meinen Followern helfen, für sich die beste Medizin zu bekommen. Das Feedback und die tollen Kommentare, die ich bekomme, sobald meine Videos online sind, zeigen mir, dass wir zusammen auf dem richtigen Weg sind!
Heiko: Wer steht hinter Doktor-johannes.de und was plant Ihr für die Zukunft?
Dr. Johannes: Dr. Johannes bin ich als echte Person. Ich habe nach einigen Jahren in der Medizin den Wunsch gehabt, die andere Seite des Gesundheitssystems kennenzulernen und bin in eine sehr große Werbeagentur gegangen. Dort durfte ich lernen, was die großen und kleineren Medikamentenhersteller und alle anderen Akteure im Gesundheitssystem machen und in Zukunft machen wollen. Die Arbeit war spannend, aber viel zu weit weg von den Menschen um die es geht. Ich habe nun für mich die perfekte Situation gefunden. Ich arbeite als Arzt in der Chirurgie in einem Krankenhaus in Hamburg mit einer halben Stelle und kann mit der anderen halben Stelle den Videoblog und meine Vision aufbauen. Ein Hamburger Verlag unterstützt mich dabei. Der Verlag Dumrath und Fassnacht ist nicht nur von der Idee des Blogs überzeugt, sondern auch von meiner Vision, dass Menschen bereits online den Grundstein für die beste Medizin legen können. Momentan drehe ich die Videos selbst, bearbeite Sie und stelle sie ins Netz. Die Mitarbeiter aus dem Verlag haben mir eine tolle Seite programmiert und sorgen dafür, dass die Videos online sind.
Heiko: Was gibt Dir die Arbeit im Social Web?
Dr. Johannes: Ich bin unglaublich dankbar für die Möglichkeit, Menschen wie Dich und die anderen Blogger, Follower und in den sozialen Netzwerken aktiven Menschen kennenzulernen. Das Gesundheitssystem in Deutschland wird sich verändern, wenn die Menschen, die es brauchen die Änderung gestalten. Zu sehen, wie dies online geschieht und wie Menschen mit schwersten Erkrankungen, deren Stimmen vorher nie gehört worden wären, heute zu den online Meinungsbildnern gehören, fasziniert mich.
Zur Person:
Dr. Johannes Wimmer (30) ist Hamburger Jung. Nachdem er in der ganzen Welt auf der Suche nach der besten Medizin war, ist er wieder in Hamburg angekommen. Medizin ist für ihn die Möglichkeit, jeden Tag menschlich zu wachsen. Den Antrieb, ständig weiterzumachen und immer die beste Leistung, menschlich und handwerklich, zubringen, hat er seiner Mutter zu verdanken. Seine Kraft schöpft er aus der Zeit mit seiner Familie und seinen beiden Dackeln.
Saison-Start in der Fußball-Bundesliga. Blinde und sehbehinderte Fans hatten dies Wochenende einen Grund zur Freude. Es gibt aber in Sachen Barrierefreiheit auch neue Probleme.
Am Freitag gab es eine Premiere im deutschen TV. Die ARD hat erstmals eine Fußball-Übertragung mit Audiodeskription ausgestrahlt. Blinde und sehbehinderte Zuschauer konnten so den Sieg der Bayern gegen Mönchengladbach am Fernseher verfolgen. ARD und ZDF haben unterdessen angekündigt, dass zukünftig häufiger Fußball-Vollreportagen via Hörfilm-Spur ausgestrahlt werden. Was ich hieran besonders positiv finde: Endlich werde ich entspannt mit sehenden Freunden zusammen Länderspiele schauen können. Während auf dem Bildschirm das Spielgeschehen zu sehen sein wird, wird über die Lautsprecher der ausführliche Audiokommentar, wie man ihn aus dem Radio kennt, laufen. Bisher war es so, dass ich bei einer WM so manches Mal die Spielreportagen via Kopfhörer aus dem Radio gehört habe, während die sehenden Freunde das TV-Programm anschauten. Hierbei gab es das Problem, dass der Radioton der Fernsehübertragung etliche Sekunden voraus war, so dass ich mich schwer zusammenreißen musste, beim Elf-Meter-Schießen nicht zu früh „Toooooor“ zu rufen, während meine Freunde noch gespannt den Schützen beim Anlaufnehmen beobachteten.
In Sachen Bundesliga und Barrierefreiheit habe ich mich dieses Wochenende aber auch ärgern müssen. Grund ist die iPhone-App von Sport1.FM. Der Radiosender Sport1.FM überträgt ab dieser Saison alle Spiele der Bundesligen. Während der Vorgänger 90Elf es zuletzt geschafft hatte, eine auch für blinde Menschen bedienbare App anzubieten, ist dies bei Sport1.FM nicht der Fall. So konnte ich die Übertragung von Schalke gegen HSV nicht eigenständig starten. „Da ist eine Play-Taste“, sagte meine sehende Freundin, als sie auf meinen iPhone-Screen schaute. Nur schade, dass die App so gestaltet ist, dass VoiceOver diese Play-Taste nicht erkennen kann. Barrierefreiheit ist leider immer noch nicht selbstverständlich.