Sebastian Fitzek im Interview: „Das Opfer meiner Vorstellungskraft“

Sebastian Fitzek stürmt mit seinem aktuellen Thriller „Der Augensammler“ die Bestseller-Listen. In einem Interview spricht der Berliner über das Thema Blindheit im Roman, über seine privaten Ängste, Kritik an seinem Schreibstil und über den Alltag als Schriftsteller. Online gibt es Infos und Links unter www.sebastianfitzek.de.

Sebastian Fitzek mit Hund
Sebastian Fitzek mit Hund

Heiko: In Deinem aktuellen Psychothriller „Der Augensammler“ jagt u. A. eine blinde Physiotherapeutin einen Entführer und Killer. Wie kam sie in Deinen Roman?

Sebastian: Ich bin selbst bei einer Physiotherapeutin in Behandlung, die sich auf Shiatsu behandelt hat. Wann immer ich von Frau Jungbluth dieser asiatischen Druckpunktmassage unterzogen werde, schließt sie ihre Behandlung mit einer seelischen Analyse. Sie ist der Meinung, dass jede körperliche Verspannung auch eine psychische Ursache hat, die oft bis weit in die Kindheit zurück reicht. Sie sagt mir also immer, was sie während der Behandlung aus meinem Körper „gelesen“ hätte. Eines Tages, mitten in der Massage, schoß mir ein Gedanke durch den Kopf: „Wenn Frau Jungbluth tatsächlich durch bloße Berührungen in meine Vergangenheit sehen kann – was wäre, wenn ich ein Serienmörder bin? Würde sie das fühlen?“ Und so war die Idee von Alina Gregoriev geboren – der blinden Physiotherapeutin, die behauptet, durch ihre Behandlung in die Vergangenheit ihrer Patienten sehen zu können. Und gestern habe sie den meistgesuchten Serienmörder Deutschlands berührt …

Heiko: Der Täter entführt Kinder, tötet sie. Den Leichen fehlt ein Auge. Du sprichst damit auf drastische Weise eine Urangst des Menschen an: die vor dem Verlust des Augenlichts. Wovor hast Du am meisten Angst?

Sebastian: Ich habe eher undefinierte Ängste, keine so konkreten, wie etwa mein Augenlicht zu verlieren. Ich bin eher in Alltagssituationen das Opfer meiner Vorstellungskraft. Wenn ich zum Beispiel durch eine schöne, ruhige Straße in einem Villenvorort fahre, die Sonne scheint, klarer Himmel, angenehme Musik im Autoradio – sofort überlege ich, was jetzt passieren könnte, um diese Idylle zu zerstören. Und dann springt vor meinem geistigen Auge ein Kind auf die Fahrbahn. In diesen Sekunden bekomme ich schreckliche Angst und meine Beifahrer wundern sich dann, weshalb ich unvermittelt auf die Bremse steige.

Heiko: In Artikeln über den „Augensammler“ stand häufig zu lesen, dass Dich Betroffene über den Alltag blinder Menschen beraten haben. Wie sah das genau aus?

Sebastian: Alles ging los, als ich Anfang 2009 getwittert habe, dass in meinem nächsten Thriller eine Blinde eine Hauptrolle spielen soll. Sofort meldeten sich viele Blinde und Sehbehinderte, die mir ihre Mithilfe anboten. Oft verbunden mit dem Hinweis: „Über uns wird so viel Mist geschrieben, bitte mach nicht die gleichen Fehler, wie alle anderen.“ Diese Warnung habe ich sehr ernst genommen und war von der Hilfsbereitschaft begeistert. Zuerst habe ich einen Fragebogen erstellt, den ich mit einigen Blinden durchging. (Die Antworten sind auf meiner Homepage http://www.sebastianfitzek.de im Bereich Bonusmaterial zum Augensammler zu finden.) Dann diskutierten wir stundenlang in Telefonchats über die Figur der Alina und Aspekte der Geschichte. Schließlich wurden die relevanten Kapitel von über 20 blinden bzw. sehbehinderten Testlesern probegehört. Durch ihr Feedback habe ich so viele faszinierende Details erfahren, die ich alle gar nicht in einem einzigen Roman unterbringen konnte.

Heiko: Auf Deiner Lesetour zum Buch konnte das Publikum in einem völlig lichtlosen Raum eine grausame Passage aus Deinem Thriller hören. Wie war die Reaktion der Leute, die dies Abenteuer eingegangen sind?

Sebastian: Unterschiedlich. Die Idee fand sehr großen Anklang, allerdings waren nur wenige mutig genug, tatsächlich in unsere rollende Dunkelkammer zu steigen. Einige haben es dann nicht bis zum Ende durchgehalten, das Erlebnis war offenbar doch zu beklemmend. Der Rest aber war durchgehend begeistert.

Heiko: Apropos dunkler Raum. Ausstellungen wie „Dialog im Dunkeln“ oder Restaurants wie die „Unsicht-Bar“ erfreuen sich großer Beliebtheit. Hast Du so eine Einrichtung schon einmal besucht, und wenn ja, wie war es für Dich?

Sebastian: Dialog im Dunkeln steht ganz oben auf meiner To-Do Liste, wenn ich das nächste mal in Hamburg bin. Ich war in Berlin in einem Dunkelrestaurant und empfand es als eine ganz außergewöhnliche und tolle Erfahrung. Das beginnt mit der Faszination über die Selbstverständlichkeit, mit der sich die blinden Kellner in dem Restaurant zurecht finden. Dann ist es für mich als sehenden eine unglaublich sinnliches Erlebnis zu spüren, wie sich andere Sinne verstärken, wenn man nicht mehr durch visuelle Reize abgelenkt wird. Noch nie habe ich Kartoffeln so intensiv geschmeckt wie in dieser vollständigen Dunkelheit.

Heiko: „Der Spiegel“ lobt zwar Deinen Sinn für Spannung und überraschende Wendungen, kritisiert aber hölzernen Stil und einen Mangel an sprachlicher Eleganz. Was hältst Du von solcher Kritik?

Sebastian: Ehrlich gesagt habe ich mich sehr über die Aufmerksamkeit gefreut, die mir vom Spiegel zuteil wurde, der mir ja immerhin eine ganze Seite widmete. Sie fanden es spannend, schreiben sogar das wäre mein „spektakulärster Knüller“. Und mein Stil wurde mit dem von John Grisham und Michael Crichton verglichen, zwei meiner Lieblingsautoren. Also wenn das kein Lob ist!

Heiko: Wie sieht ein typischer Fitzek-Tag aus, wenn Du an einem Roman schreibst?

Sebastian: Den gibt es zum Glück nicht. Jeder Tag ist anders. Manchmal stehe ich um 7.00 Uhr auf und setze mich noch in Unterwäsche vor den Laptop. Manchmal hab ich Termine, gebe Interviews und lenke mich mit Emails ab, bis ich dann endlich um 22.00 Uhr den ersten Satz schreibe. Meist aber versuche ich meinen inneren Schweinehund so früh wie möglich zu überwinden. Schreiben ist nämlich wie Joggen. Vor dem ersten Schritt hat man meistens keine Lust, aber wenn man erstmal angefangen hat, wird es immer besser.

Heiko: Neben der Literatur arbeitest Du immer noch als Redakteur beim Berliner Radiosender RTL 104.6. Kann man vom Verfassen spannender Bestseller nicht leben, oder brauchst Du einen Ausgleich zum Schreiben?

Sebastian: Ich kann zum Glück mittlerweile vom Schreiben leben, würde aber jedem Autor empfehlen, sich einen Anker in der Realität zu bewahren. Die verrückten Geschichten und die verhaltensauffälligen Menschen, die mich zu meinen Thrillern inspirieren, laufen ja nicht bei mir zu Hause durchs Wohnzimmer. Ich brauche ein Leben neben dem Schreiben, aus dem ich meine Geschichten schöpfen kann. Daher versuche ich mir meine Tätigkeit beim Radio so lange wie möglich zu erhalten.

Sebastian Fitzek: Der Augensammler, Droemer/Knaur, gebundene Ausgabe, 448 Seiten, 16,95 Euro; ungekürzte Lesung bei Audible.

Joana Zimmer im Interview: „Mein persönlichstes Album“

Heute erscheint „Miss JZ“, das neue Album von Joana Zimmer. Die blinde Sängerin spricht in einem Interview mit mir über ihre neue musikalische Seite, über ihre TV-Pläne und über den Umgang mit ihrer Behinderung. Alle Infos rund ums neue Album finden Sie auf missjz.com. Joana freut sich auf Ihre Freundschaftsanfragen bei Facebook.

Joana Zimmer

Heiko: Heute erscheint Dein neues Album „Miss JZ“. Was erwartet Deine Fans musikalisch und stilistisch?

Joana: Momentan bin ich häufig auf Promotion-Terminen. Da bekomme ich viel positives Feedback: „Internationaler Sound“ oder „Dein bestes Album“. Das freut mich sehr. Erstmals ist auch ein Song mit einem Rap-Part auf der CD. Und ich kann sagen, dass es mein persönlichstes Album ist. Es ist stimmungsvoll und zeigt eine neue Seite von mir, die ich bisher noch nicht in meiner Musik ausdrücken konnte.

Heiko: Du kommst ursprünglich vom Jazz. Vermisst Du manchmal, diese Musik zu performen?

Joana: Ich baue Jazz bis heute immer wieder in meine Liveshows ein. Als ich anfing mit der Musik, hatte ich noch keinen eigenen Stil. Da habe ich eben Songs nachgesungen. Ich liebe aber den modernen Sound. Meine Inspiration hole ich mir aus ganz verschiedenen Sparten. Ein Track auf meinem Album ist zum Beispiel von einem Bach-Präludium inspiriert. Ich halte nicht viel von Kategorisierungen in der Musik.

Heiko: Neben der Musik warst Du auch schon vor der Kamera zu sehen, z. B. in der Telenovela „Rote Rosen“. Steht Schauspielerei auch zukünftig auf Deiner To-Do-Liste?

Joana: Ja, auf jeden Fall. Das hat damals viel spaß gemacht. Ich habe früher auch Theater gespielt. Songs sind für mich wie kleine Theaterstücke. Bei „Rote Rosen“ mitzuspielen war wirklich witzig.

Heiko: Kürzlich warst Du für die Dokusoap „Verrückt nach Meer“ auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs. Die Sendung läuft voraussichtlich im Januar 2011. Wie war es auf hoher See und was bedeutet das Meer für Dich?

Joana: Ich liebe das Meer. Das war eine coole und spannende Erfahrung. Ich hatte vorher noch nie eine Kreuzfahrt mitgemacht. Eigentlich bin ich bei Dokusoaps etwas skeptisch. Aber „Verrückt nach Meer“ war eine tolle Möglichkeit, mich meinen Fans von einer persönlicheren Seite zu zeigen. Das Schiff hat schon ein bisschen geschwankt. Das war aber vergleichsweise harmlos. Toll waren die Landgänge. Wir waren in Indien und den Arabischen Emiraten. Ständig die TV-Kameras dabei zu haben war schon sehr speziell. Aber das Team war nett und rücksichtsvoll. Dennoch werde ich das jetzt sicher nicht ständig machen.

Heiko: Während der Reise hast Du u. A. das Helen-Keller-Institut in Mumbai besucht. Was ist das für eine Einrichtung?

Joana: Das ist eine Einrichtung für taubblinde Menschen. Wenn man in einem Land wie Indien zu den Nichtprevilegierten gehört und dann noch ein Handicap dazu kommt, hat man es sehr schwer. Wir haben auch eine Augenklinik besucht, was für die Zuschauer sicher spannend wird. Gezeigt wird zum Beispiel ein Junge, der im Krankenhaus geheilt werden konnte. Beeindruckend sind die Schilderungen seiner Mutter. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass man den behinderten Menschen dort helfen kann. Ich finde es immer sehr ermutigend, dass das doch möglich ist. Daher bin ich auch Botschafterin der Hilfsorganisation Christoffel-Blindenmission.

Heiko: Im vergangenen Jahr bist Du beim Louis-Braille-Festival in Hannover und beim Fest der Sinne des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg aufgetreten. Welchen Stellenwert hat für Dich die Blindenschrift Louis Brailles und was hältst Du von den Selbsthilfe-Organisationen blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland?

Joana: Louis Braille ist einer der ganz, ganz Großen. Ich bin ein Punktschrift-Fan, obwohl ich natürlich auch hörbücher auf dem iPod höre. Eine Freundin von mir hat mir neulich einen langen Brief in der Brailleschrift geschickt, in dem sie Zu jedem Song des Albums etwas geschrieben hat. Den hatte ich auf meiner Reise dabei. Ich bin selbstverständlich Mitglied im Berliner Blinden- und Sehbehindertenverein, hab aber wenig Zeit, hier aktiv etwas zu machen. Ich versuche mit öffentlichen Auftritten für unsere Themen zu sensibilisieren.

Heiko: Du hast an einer Blindenschule Abitur gemacht. Im Musik- und TV-Geschäft arbeitest Du heute ständig mit sehenden Menschen zusammen. Ist Deine Behinderung für Dich und Dein künstlerisches Umfeld überhaupt noch ein Thema?

Joana: Eigentlich nicht. In Interviews werde ich immer wieder darauf angesprochen. Aber es hängt viel davon ab, wie man selbst damit umgeht, wie offen man ist. Als ich eine neue Promoterin bekam. hat sie erstmal mein Management angerufen und gefragt, ob sie etwas im Umgang mit mir berücksichtigen müsste. „Ja“, war die Antwort. „Buche für sie nur Nichtraucherzimmer.“ Ich rede ja offen über mein Handicap. Und so wurde meine Promoterin immer entspannter. Irgendwan kennt man sich. Und dann spielt die Behinderung keine Rolle mehr.

Heiko: Du bist im so genannten Web 2.0 unterwegs. Du hast einen Account bei Facebook und bist bei Twitter. Warum?

Joana: Ich mache das, um Kontakt zu meinen Fans zu halten. Ich kann sie Dank des Internets viel schneller updaten als früher. Das Web bietet da tolle Möglichkeiten. Für die Popularität einer Musikerin ist das Internet ganz, ganz wichtig. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das Web 2.0 auch als Privat-Person so stark nutzen würde.

Kollektiv-Bilder: „In keine Schublade stecken lassen“

Carsten Dethlefs (29) wendet sich entschieden gegen Kollektiv-Bilder, die über blinde Menschen in unserer Gesellschaft bestehen. In seinem aktuellen Buch gibt er Blinden- und Sehbehinderten-Einrichtungen eine Mitschuld an ihnen. In einem Interview spricht der selbst blinde Wissenschaftler über die Situation am Arbeitsmarkt, über Integration, den Kampf um das Blindengeld und über einen vergessenen US-Senator.

Carsten Dethlefs
Carsten Dethlefs

Heiko Kunert: Kürzlich haben die Leserinnen und Leser meines Blogs in einem Interview gelesen, welche Schwierigkeiten für blinde Menschen auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Auch Sie sind blind. Welchen Ausbildungs- und Berufsweg haben Sie bisher hinter sich?

Carsten Dethlefs: Ich habe nach meinem Abitur im Jahr 2000 an der Fachhochschule-Westküste ein Betriebswirtschaftsstudium aufgenommen und im Jahr 2004 erfolgreich abgeschlossen. Anschließend studierte ich Wirtschaftswissenschaften, teils berufsbegleitend an der Fernuniversität in Hagen. Dieses Studium habe ich 2009 erfolgreich abgeschlossen. Derzeit schreibe ich an meiner Doktorarbeit.

Kunert: Wir müssen also nicht in typischen „Blinden-Berufen“ landen. Was glauben Sie: Warum fällt es dennoch vielen Betroffenen schwer, einen regulären Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden?

Dethlefs: Die Situation ist zum Einen schwierig, weil die Blindenverbände es bisher versäumt haben, ausreichend über die technischen Arbeitsmöglichkeiten blinder Menschen aufzuklären. Es kommt noch hinzu, dass bei der Beschäftigung behinderter Menschen vile Sonderregelungen greifen, wie beispielsweise ein gesonderter Kündigungsschutz. Wenn man als Arbeitgeber also nicht weiß, wie leistungsstark blinde Menschen sein können, gleichzeitig die Gefahr besteht, einen behinderten Mitarbeiter eventuell nach dessen Einstellung nicht wieder los zu werden, muss man schon sehr mutig sein, um behinderte Menschen zu beschäftigen.

Kunert: Es gibt so ein Klischée: Blinde Menschen verbringen ihre Zeit vor allem mit anderen blinden Menschen. Trifft diese Annahme auf Sie zu?

Dethlefs: Nein, ich kenne zwar den ein oder anderen blinden Menschen, habe aber überwiegend Kontakt zu visuell nicht eingeschränkten Personen. Das halte ich auch für ganz normal. Allerdings habe ich es erlebt, dass, insbesondere in Blindeneinrichtungen, hier ganz anders gedacht wird. Da stelle ich mir immer die Frage, ob diese Einrichtungen an einer Integration tatsächlich interessiert sind. Gleichzeitig habe ich es erleb, dass mir diese Einrichtungen nicht sonderlich weitergeholfen haben, sondern die Herausforderungen des Lebens gemeinsam mit sehenden Menschen viel besser zu bewältigen sind.

Kunert: Über blinde Menschen gibt es viele weitere Vorurteile oder Annahmen. Herr Detlefs, Sie wenden sich entschieden gegen diese Kollektiv-Bilder. Warum?

Dethlefs: Diese Kollektiv-Bilder nehmen den blinden Menschen die Freiheit, sich wie jeder andere Mensch zu entfalten. Man ist ja nicht freiwillig physisch blind und muss, nach meiner Meinung, sich daher auch in keine durch Kollektiv-Bilder entstandene Schublade stecken lassen.

Kunert: Wie können diese Kollektiv-Bilder aus den Köpfen der sehenden Menschen verschwinden, und was können wir als blinde Menschen dazu beitragen?

Dethlefs: Blinde Menschen gehören vielmehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und zwar nicht als blinde Menschen, sondern als Menschen, die Dinge tun, wie jedr andere Mensch auch. Beispiele kann ich hier nicht geben, weil jeder Mensch halt unterschiedliche Interessen hat. Aber, man sollte die physische Blindheit nicht immer wie ein Schirm oder Schild mit sich herumtragen. Es gab Zeiten, da habe ich Tage lang nicht darüber nachgedacht, dass ich nichts sehen kann. Mein persönliches Umfeld war so gut auf meine Situation eingestellt, dass diese Gedanken gar nicht aufkamen.

Kunert: Sie kritisieren Blinden- und Sehbehinderten-Organisationen: Sie würden unnötig emotionalisieren und gern die Schwächsten vorschicken, so zum Beispiel beim Kampf um das Blindengeld. Was genau ´bemängeln Sie?

Dethlefs: Durch den Kampf um das Blindengeld wurde der Öffentlichkeit wieder ein Bild blinder Menschen vermittelt, wie es nicht jedem einzelnen dieser Zwangsgemeinschaft gerecht wird. Hätten blinde Menschen es bereits vorher geschafft, zu zeigen, wie vielschichtig diese Gruppe ist, hätte ich keine so heftige Kritik geübt. Wenn blinde Menschen aber nur in das öffentliche Bewusstsein treten, sobald ihnen etwas weggenommen wird, reagiere ich empfindlich. Ebenso würde es mir mit Gewerkschaften oder anderen Verbänden gehen. Der Unterschied ist nur, als blinder Mensch kann man nicht einfach aus der Gruppe blinder Menschen austreten, wie man es aber aus einer Gewerkschaft tun könnte.

Kunert: Ausführlichkönnen die Blind-PR-Leser Ihre Analyse in einem Buch nachlesen. Es heißt: „Eine wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Verhaltens von Zwangsgemeinschaften, positive und negative Wohlfahrtseffekte für deren Mitglieder, „yes, we can“ auch! Hinweise für einen konstruktiven Umgang mit persönlichen Einschränkungen“. Sie stellen hierin u. A. Thomas Pryor Gore vor. Wer war das, und was fasziniert Sie an ihm?

Dethlefs: Thomas Pryor gore war der erste blinde Senator in den USA. Fasziniernd ist, dass er dieses Amt ausgeübt hat, in einer Zeit, in der es noch keine technischen Hilfsmittel für blinde Menschen gab, nämlich Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhundert. Ich hatte, als ich ihn ausfindig machte, auch das Gefühl, das bei ihm immer die Person, der Mensch und nicht das Handicap im Vordergrund standen. Die zwischenmenschliche Hilfsbereitschaft muss auch sehr stark ausgeprägt gewesen sein. So sollte es eigentlich immer sein.

Carsten Dethlefs: Eine wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Verhaltens von Zwangsgemeinschaften, positive und negative Wohlfahrtseffekte für deren Mitglieder, „yes, we can“ auch! Hinweise für einen konstruktiven Umgang mit persönlichen Einschränkungen, Grin-Verlag 2009, ISBN-Nummer: 3-640-48417-7 13,99 Euro.

Bürokratie statt Arbeitsplatz: „Ich könnte vielen Frauen helfen“

Arbeitsplatz und Sehbehinderung scheinen in Deutschland beinah unvereinbar. Vorurteile bei Arbeitgebern, bürokratisches Wirrwarr und unflexible Sachbearbeiter sind einige Ursachen dafür. Janine Zehe hat ihren Traumberuf gefunden, kann ihn aber nicht ausüben. In einem Gespräch mit mir beschreibt die blinde Frau ihren Werdegang und ihre Erfahrungen bei der Jobsuche und mit der Arbeitsagentur.

Janine Zehe
Janine Zehe

Heiko: Janine, magst Du den Blind-PR-Lesern ein bisschen über Dich erzählen, wie alt Du bist, wodurch Du erblindet bist, was Du in Deiner Freizeit so treibst?

Janine: Hallo! Ja gern. Also ich bin 30 Jahre alt, seit meiner Geburt durch einen Gendeffekt blind. Davon habe ich mich allerdings nie einsperren lassen. Seit meinem 9. Lebensjahr reite ich, wenn das Geld es mir gestattet, mehr oder weniger regelmäßig. Außerdem gehe ich sehr gern segeln, mit Freunden ins Kino, Bars, auf Konzerte(Deutschlandweit auch ohne Begleitung), ins Theater, einfach aus. Dazu bin ich passionierte Schauspielerin und Sängerin, spiele seit zwei Jahren in einer Hamburger Theatergruppe, bestehend aus blinden und sehenden Schauspielern, mit. Außerdem liebe ich es, Gedichte zu schreiben, zu kochen und spazieren zu gehen. Auch Hörspiele und deren Live-Präsentationen vor der Veröffentlichung oder auch danach sind meine große Leidenschaft.

Heiko: Blinde Kinder kommen heutzutage immer häufiger auf Regelschulen. Zu Deiner Zeit war das die absolute Ausnahme. Wo bist Du zur Schule gegangen und wie fällt im Nachhinein Dein Fazit aus – bist Du für Sonderschulen oder für integrative Klassen?

Janine: Ich besuchte von 1986 bis 1997 die Blinden- und Sehbehindertenschule Borgweg, von 97 bis 2000 die Höhere Handelsschule für Blinde und Sehbehinderte in der Carl-Cohn-Straße in Hamburg. Ganz ehrlich gesagt, bin ich, als ich im Jahr 2000 die Höhere Handelsschule verließ, mittelschwer geschockt gewesen, was wir alles nicht gelernt haben. Gott sei Dank bin ich ein sehr offener, wissbegieriger Mensch, so konnte ich diese Defizite nachholen. Integration ab der 1. Klasse finde ich problematisch, da man, insbesondere für Mathematik und Rechnungswesen, die Blindenschrift braucht, um effektiv und schnell arbeiten zu können. Ab der 5. Klasse aber sollte eine integrative Beschulung stattfinden, damit das blinde Kind beide „Perspektiven“ kennenlernt: einerseits nicht allein auf der Welt mit seiner Blindheit zu sein, andererseits die einzige mit einer Behinderung zu sein, ich denke das hilft, später im Leben gut zurechtzukommen. Mein Vorteil waren halt meine sehenden Freunde, die ich während meiner gesamten Kindheit und Jugend hatte.

Heiko: Nach der Schule hast Du studiert. Wie war es mit sehenden Kommilitonen zusammen zu arbeiten? Wie kooperativ waren die Dozenten?

Janine: Es war WUNDERBAR! Natürlich gab es auch Probleme, insbesondere in der Praxisphase unseres Studiums, (Sozialpädagogik an einer evangelischen privaten Fachhochschule) aber die Dozenten waren immer sehr kooperativ. Meine Probleme waren auch einfach dadurch gemacht, dass wir in einem Stadtteil mit einer hohen Anzahl von Migranten arbeiteten. Da kam die Sprachbarriere, aber auch das Misstrauen, das aus verschiedenen Kulturen Menschen mit Behinderung gegenüber entstanden ist. Wenn es darum ging, etwas von Overheadprojektoren oder Stellwänden vorgelesen zu bekommen, fand sich immer jemand. Mein Arbeitsmaterial bekam ich meist vorher, so dass ich es einscannen und mich dementsprechend an den Seminaren beteiligen konnte.

Heiko: Nach dem Studium stellt sich die Frage nach dem Job. Intuitiv denken viele Menschen, dass man als blinde Sozialpädagogin wenig Probleme bei der Arbeitsplatzsuche haben sollte – schließlich passen für viele die Begriffe „Sozial“ und „Behindert“ doch perfekt zusammen. Welche Erfahrungen hast Du bei Deinen Bewerbungsgesprächen gemacht? War Deine Behinderung ein Problem?

Janine: Oh ja! Meine Behinderung war und ist, gerade im sozialen Sektor, ein Problem. Oft scheint es mir, aber das ist nur mein Eindruck, dass Sozialarbeiter und Pädagogen zu viel reden und sich daher selbst im Wege stehen und dadurch keine Veränderung stattfinden kann. Bei meinen Bewerbungsgesprächen, so überhaupt welche stattfanden und nicht vorher eine Absage kam, wurde sich sehr oft hinter sehr wagen, sozialpädagogisch-höflichen Formulierungen verschanzt. Nur von meiner ehemaligen Anleiterin, die mich aus einem einjährigen Praktikum zum Erlangen der Fachhochschulreife kannte, und sogar wusste, dass ich gut arbeite, bekam ich folgende Aussage: „Janine, wir haben so viele Sozialpädagogen auf dem Arbeitsmarkt. Da können wir uns welche aussuchen und nehmen… entschuldige meine Offenheit… lieber die Gesunden.“ Das aus dem Mund von ihr zu hören, war einerseits ein Schock, andererseits war DAS wenigstens mal ehrlich und es wurde nicht vorgeschoben, dass leider in der sozialen Einrichtung zu wenig Platz sei, oder dass Bedenken vorherrschten, die „Klienten“ würden mit einem blinden Menschen nicht zurechtkommen. Wer weiß, vielleicht verstekct sich dahinter auch ein Gedanke wie: „Wir sehen jeden Tag so viel Elend, dann nicht auch noch eine Kollegin mit Behinderung“. Und dann ist ja auch viel Aufwand mit der Beschaffung von Hilfsmitteln zu betreiben, und bei einem Behinderungsgrad von 100 % besteht ja auch ein sehr fester Kündigungsschutz. Sehr oft sind die Sozialpädagogenstellen auch noch befristet, wodurch die Förderung von Hilfsmitteln durch das Integrationsamt wegfällt, ebenso wie die Lohnförderung der ersten zwei bis drei Jahre.

Heiko: Und wie ging es dann jobmäßig bei Dir weiter?

Janine: Ich diplomierte im Februar 2006, woraufhin ich erst einmal für 9 Monate arbeitslos war. Ich versuchte es überall, sogar in Obdachlosenberatungsstellen. Schließlich erfuhr ich durch eine Rundmail, die der „Dialog im Dunkeln“, wo ich damals als Aushilfe arbeitete, verschickte, dass die „Unsicht-Bar“, ein vollkommen dunkles Restaurant öffnete. Hier sah ich meine Chance, denn damals schon hatte ich die Nase von den ganzen Ausreden gestrichen voll. Das Glück wollte es also, dass ich am 01.11.06 fest eingestellt wurde. Also kellnerte ich ein Jahr und zwei Monate vor mich hin, was mir auch viel gegeben hat, es machte Freude, und ich lernte einiges über mich selbst. Dann allerdings merkte ich, dass mir das nicht mehr reichte, ich betrieb sogar meine eigene private „Sozialforschung“ nebenher, indem ich beobachtete, wie Menschen in einer solchen Situation miteinander umgehen, welche Menschen was essen usw. Also ging ich im Februar 08, um mich weiterzuentwickeln und zu orientieren.

Heiko: Unsicht-Bar und Dialog im Dunkeln sind wichtige Institutionen. Du wolltest aber nicht den Rest Deines Lebens im Dunkeln arbeiten. Aktuell versuchst Du Tastuntersucherin zu werden. Was genau ist das?

Janine: Eine medizinische Tastuntersucherin ist eine blinde Frau, die Gynäkologen bei der Brustkrebsdiagnose hilft. Hierbei tastet sie Cm für Cm die weibliche Brust nach Knötchen ab. Dies geschieht nach einem gewissen System, welches Dr. Frank Hoffmann aus Duisburg entwickelt und daraus das projekt „Discovering hands“ gemacht hat. Hierbei wird die erhöhte sensibilität in den Händen eingesetzt, die bei blinden Frauen mehr ausgeprägt ist, weil wir unsere Hände ja ganz anders zum Tasten einsetzen müssen. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir uns viel mehr Zeit nehmen können für die Tastuntersuchung, eine MTU untersucht sehr vorsichtig und in entspannter Atmosphäre ca. eine halbe Stunde lang die Brust, was im normalen Praxisalltag eines Gynäkologen nicht möglich ist. So wird das „Serviceangebot“ einer Praxis ergänzt.

Heiko: Das klingt doch nach dem perfekten Arbeitsplatz für eine blinde Frau. Deine Behinderung ist hier kein Hindernis, sondern geradezu die Qualifikation. Warum konntest Du dennoch die Ausbildung noch nicht beginnen? Legen Dir Behörden Steine in den Weg?

Janine: Genau richtig! Hier ist die Blindheit „Bedingung“. Eine Zeitung fasste dies mal in der Schlagzeile „Die Behinderung zur Stärke machen“ zusammen. Ich hätte die Ausbildung schon am 01.02. begonnen, aber die Agentur für arbeit wollte mich erst durch das ganze Procedere (Psychologisches Gutachten) schleusen, um zu sehen, ob ich eine sog. „Rehabilitantin“ bin. Hierbei sollte festgestellt werden ob ich für eine Ausbildung geeignet bin, und ob bei mir eine drohende psychische Behinderung vorläge, denn eigentlich sind Rehabilitanten Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Alerdings wurden auch schon Menschen mit Behinderung zu Rehabilitanten gemacht, weil es in diesem Gesetz bzw. in dem Antrag, den man stellen muss, einen Passus auf „Teilhabe am Arbeitsleben“ gibt. Dieser Status wurde mir leider noch nicht gegeben, weil ich ja geburtsblind bin und meine psychische Verfassung zu gut ist. Wäre sie es aber nicht, würde man mir die Ausbildung aus genau dem Grund verweigern, da man mir und den Patienten sonst den Umgang nicht zumuten könnte, was ja auch verständlich ist. Wer möchte sich schon von wem „behandeln“ lassen, der depressiv ist? Ich verstehe es nur nicht, dass man bei einigen blinden Menschen den Reha-Status erreichen konnte, weil eben in diesen Fällen der Arbeitsmarkt die Hauptargumentation darstellte. Das ist bei mir auch so, seit 4 Jahren versuche ich, eine Arbeit als Sozialpädagogin zu finden und es klappt nicht. Die Arbeitslosenquote bei blinden Menschen liegt bei 70%, bei der reinen Frauenstatistik sogar noch höher. Ich bin blind und ich bin Frau, habe im Januar eine Arbeitserprobung zur Medizinischen Tastuntersucherin (MTU) im Berufsförderungswerk Mainz bestanden. Es ist keine utopische Fortbildung, bei der man nicht weiß, welche Erfolge sie bringt, da es norddeutschlandweit nur eine MTU gibt, ich wäre die zweite, hätte also sehr reale Jobchancen. Durch die vorläufige Ablehnung verzögert sich alles, ich hätte sonst am 01.08.10 beginnen können, wäre ende Mai nächsten Jahres in Arbeit, also nicht mehr in der Statistik der Agentur, und ich hätte eine Aufgabe. Auch würden Kosten durch die Zahlung des Arbeitslosengeldes gespart, auch wenn die Ausbildung auf den ersten Blick sehr viel kostet.

Heiko: Was wünscht Du Dir, für Deine berufliche Zukunft im Speziellen und für den Umgang zwischen blinden und sehenden Menschen im Allgemeinen?

Janine: Hm von den Arbeitgebern mehr Mut dazu, es mit behinderten menschen mal auszuprobieren, da wir oft mehr können als uns zugetraut wird. Für meine persönliche Zukunft wünsche ich mir sehr, MTU zu werden, da ich gemerkt habe, dass mir die Tätigkeit sehr großen Spaß macht und auch noch sinnvoll ist, ich könnte vielen Frauen helfen, da gut ausgebildete MTU’s schon sehr kleine Auffälligkeiten ertasten können. Hm, für den Umgang blinder und Sehender im allgemeinen wünsche ich mir einfach mehr Selbstverständlichkeit von beiden Seiten: Weniger Schüchternheit bei Sehenden, und weniger hm „Erwartungshaltung“ bei vielen Blinden (Die Sehenden müssen schon auf mich zukommen!) Ich glaube, wenn alle Seiten mitmachen, ist erst eine Integration möglich.

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