Bürgerschaftswahl: Für ein Hamburg ohne Barrieren (Teil 1)

Am 20. Februar wählen die Hamburgerinnen und Hamburger eine neue Bürgerschaft. Blinde und sehbehinderte Menschen haben Fragen an die Parteien, die im Wahlkampf leicht untergehen. Wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) haben daher zehn Wahlprüfsteine aufgestellt. Im Folgenden versuche ich die Kernaussagen der Parteien zusammenzustellen – erstmal für die Fragen eins bis fünf (Fortsetzung folgt):

1. Bekennt sich Ihre Partei zu einem Leitbild einer Stadt ohne Barrieren?

  • CDU: Ein neues Leitbild ist nicht notwendig, da die Barrierefreiheit von Gebäuden und des ÖPNV Bestandteil der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist.
  • SPD: Ja. Menschen mit Behinderung stoßen oft auf Hindernisse, wenn sie sich in der Stadt selbstbestimmt bewegen wollen. Das wollen wir ändern.
  • GAL: Das Leitbild einer barrierefreien Stadt verfolgen wir seit Langem und auf vielen verschiedenen Ebenen
  • Linke: Eine Stadt ohne Barrieren lässt sich nur erreichen, wenn die UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umgesetzt wird.
  • FDP: Eine Metropole wie Hamburg muss auch eine Metropole für mobilitätseingeschränkte Bürger sein.

2. Werden Sie sich nach der Wahl für einen beschleunigten barrierefreien Umbau der Bahnhöfe einsetzen?

  • CDU: Es gibt eine mit den betroffenen Interessenverbänden abgestimmte Prioritätenliste zum barrierefreien Ausbau von U- und S-Bahnhöfen. Wir werden uns auch nach der Wahl weiterhin dafür einsetzen, dass diese Liste kontinuierlich umgesetzt wird.
  • SPD: Unser Ziel muss es sein, in einem überschaubaren Zeitraum sämtliche HVV-Haltestellen in Hamburg auch für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Eltern mit Kinderwagen besser zugänglich zu machen.
  • GAL: Zur Beschleunigung der Umbauten haben wir im Rahmen des Konjunkturprogramms 2 Millionen Euro bereit gestellt. Bei der Erweiterung des ÖPNV-Angebots setzen wir besonders auf die barrierefreie Stadtbahn.
  • Linke: Die LINKE wird sich für einen möglichst raschen barrierefreien Ausbau möglichst vieler Bahnhöfe der S- und U-Bahn in Hamburg einsetzen.
  • FDP: Die FDP Hamburg wird sich für Folgendes intensiv einsetzen: den barrierefreien Umbau von 10 Schnellbahnstationen pro Jahr.

3. Werden Sie die Vorschläge der BürgerschaftsKommission für ein barrierefreies Rathaus nach der Wahl vollständig umsetzen?

  • CDU: Es wurde über die Fraktionsgrenzen hinweg vereinbart, die Gespräche schon bald nach der Bürgerschaftswahl wieder aufzunehmen. Die Kommission hat bereits eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit im Rathaus veranlasst.
  • SPD: Natürlich muss das Rathaus barrierefrei werden. Richtig ist aber auch, dass ein solches Vorhaben finanziell gut durchgeplant und realistisch ist.
  • GAL: Selbstverständlich wollen wir die gemeinsam erarbeiteten Vorschläge umsetzen. Auch der neue Fahrstuhl im Rathaus ist uns sehr wichtig, jedoch bräuchte es für diese große Summe Sponsoren, die sich an den sehr hohen Kosten beteiligen.
  • Linke: Die LINKE wird sich dafür einsetzen, die bisher eingestellten Belange des Denkmalschutzes noch einmal kritisch zu überprüfen und in der Abwägung die Barrierefreiheit noch stärker als bisher zu berücksichtigen.
  • FDP: Das Hamburger Rathaus sollte für alle Bürger begehbar sein. Insofern begrüßen wir die Planung, das Rathaus barrierefrei zu gestalten.

4. Was wird Ihre Partei nach der Wahl tun, um die katastrophale Situation auf den Gehwegen im Winter zu ändern?

  • CDU: Wir sind der Überzeugung, dass die Anlieger auch weiterhin für „ihre“ Gehwege verantwortlich bleiben. Zukünftig wird es ein effektiveres Vorgehen bei der Anliegerkontrolle durch die zuständigen Bezirksämter geben.
  • SPD: Weil Anlieger Gehwege nicht ordentlich geräumt haben, kam es jüngst zu Blitzeisbildung mit der Folge, dass zahlreiche Passanten stürzten und sich zum Teil schwer verletzten. Wir werden dafür sorgen, dass in solchen Fällen die körperliche Unversehrtheit der Passanten Priorität hat und Räumpflichten konsequent durchgesetzt werden – auch im Wege der Ersatzvornahme.
  • GAL: Wenn Grundstückseigentümer ihre Räumpflichten nicht erfüllen, müssen diese auf deren Kosten zukünftig schneller durch die Stadtreinigung erledigt werden.
  • Linke: Die LINKE fordert, dass die Stadtreinigung Hamburg sowohl personell wie sachlich erheblich besser ausgestattet wird als bisher.
  • FDP: Anlieger müssen konsequent zum Räumen der Gehwege vor ihren Grundstücken angehalten werden. Die Stadt muss überprüfen, ob der Winterdienst an den rund 4.000 Bushaltestellen von der Stadtreinigung Hamburg, und an den Busbahnhöfen wie z.B. Wandsbeker Markt, Altona, Poppenbüttel von der Hamburger Hochbahn auch tatsächlich ausgeführt wird.

5. Werden Sie sich nach der Wahl für einen Stopp bei den Shared-Space-Plänen stark machen?

  • CDU: Die Idee zur Schaffung von Gemeinschaftsstraßen finden wir gut. Allerdings lebt ein solches Konzept maßgeblich von der Akzeptanz der Nutzer.
  • SPD: Denkbar ist höchstens ein Pilotprojekt. Voraussetzung hierfür ist jedoch die Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger, die bei den bisherigen schwarz-grünen Planungen erkennbar nicht vorhanden war.
  • GAL: Bei allen Planungen für Gemeinschaftsstraßen sollen die Belange sehbehinderter und blinder Menschen konsequent berücksichtigt und daher Vertreter/-innen des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg e.V. frühzeitig in die Diskussions- und Planungsprozesse einbezogen werden.
  • Linke: Behindertenverbände müssen nicht nur bei der Planung, sondern erst recht bei Ablauf und Umsetzung einzelner Maßnahmen umfassend eingebunden werden. Bis das Konzept in diesem Sinne an die UN-Behindertenrechtskonvention angepasst worden ist, sollte das Konzept nach Auffassung der Linken erst einmal gestoppt werden.
  • FDP: Die FDP Hamburg lehnt das Shared Space Vorhaben ab. Mit den für das Projekt eingeplanten Mitteln sollten lieber Schlaglöcher beseitigt und Radwege saniert werden.

Die vollständigen Fragen und Antworten finden Sie auf der Homepage des BSVH.

Shared Space in Hamburg: Ausgrenzung statt Inklusion

Es wird konkret: fünf Hamburger Straßen stehen fest, die zu Shared-Space-Flächen umgewandelt werden sollen. Geht es nach der grünen Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk, gilt in der Langen Reihe in St. Georg, in der Osterstraße in Eimsbüttel, in der Bahrenfelder Straße in Ottensen, in der Tangstedter Landstraße in Langenhorn und im Bergedorfer Weidenbaumsweg ab 2011 das Prinzip Blickkontakt. Statt Ampeln, Bürgersteigen, Zebrastreifen, Verkehrsschildern und vieler Regeln, soll es einen gemeinsam genutzten Verkehrsraum und gegenseitige Rücksichtnahme geben. Dass viele sehbehinderte und blinde Menschen das Konzept kritisch sehen, habe ich hier im blog bereits gepostet. In der vergangenen Woche hat sich der Blinden- und Sehbehindertenverein mit einer Pressemitteilung zu Wort gemeldet. Kobinet, Welt, Saarländer Online-Zeitung, Heimatspiegel, HH-Heute u. A. griffen das Thema auf. Auch die zuständige Behörde reagierte prompt und bot uns weitere Gespräche an. In der kommenden Woche werden BehördenVertreter und BSVH-Verkehrsexperten das Thema im Louis-Braille-Center erneut diskutieren. Gegenüber Altona.info sagte Enno Isermann von der Behörde für stadtentwicklung und Umwelt (BSU), Man habe ein Maßnahmenbündel mit den Verbänden, wie Tempobegrenzung, Leitelemente oder besser strukturierte Überquerungswege besprochen. “Wir werden Lösungen finden, damit die Gemeinschaftsstraße nicht zu Lasten behinderter Menschen geht”, so Isermann.

Das bleibt zu wünschen. Dennoch ist eines auch klar, Tempobegrenzungen, Leitelemente und besser strukturierte Überquerungswege lösen das Problem des fehlenden Blickkontakts nicht. Vielerorts regt sich Widerstand gegen die so genannte Gemeinschaftsstraße. Dabei kritisieren nicht nur Behinderten- und Senioren-Organisationen das Verkehrskonzept, sondern auch Anwohner und Gewerbetreibende. In St. Georg fordert der Stadtteilbeirat die BSU auf, von ihren Plänen Abstand zu nehmen. Die Linke in der Bürgerschaft verweist auf die vielen, vom Frost verursachten Schlaglöcher in der Stadt, die mit den Shared-Space-Millionen repariert werden könnten.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich bin für Verkehrsberuhigung und dafür, dass die Vorherrschaft des Autos im öffentlichen Raum in Frage gestellt wird. Das Ziel des schwarz-grünen Senats ist auch im Sinne der blinden und sehbehinderten Hamburger. Mir scheint Shared Space hierfür aber kein geeignetes Mittel. Das Konzept ist auf eine Großstadt wie Hamburg nicht übertragbar. Es grenzt behinderte Menschen aus. Ich hoffe, dass der öffentliche Druck gegen das Konzept anhält. Wir vom BSVH werden alles dafür tun, dass sehbehinderte und blinde Menschen in der Debatte um Shared Space nicht übersehen werden. Über den aktuellen Stand habe ich Ohrfunk.de in einem Interview Rede und Antwort gestanden.

Und was halten Sie von „Gemeinschaftsstraßen“? Ich freue mich auf Ihre Standpunkte und Anregungen in den Kommentaren.

Infoseite: Shared Space in Hamburg

Das Thema Shared Space bleibt in Hamburg aktuell. Inzwischen haben sechs der sieben Bezirke Vorschläge für sog. Gemeinschaftsstraßen gemacht. In Harburg wird noch über geeignete Flächen diskutiert. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) macht sich weiter in vielen Gesprächen mit Bezirkspolitikern und Behörden-Vertretern für die Belange der sehbehinderten und blinden Verkehrsteilnehmer stark. Mir will weiter nicht einleuchten, wie ich über eine stark befahrene Straße wie die Lange Reihe, die osterstraße oder dem Mühlenkamp gehen soll, wenn es keine Verkehrsschilder, formalen Geschwindigkeitsbegrenzungen, Zebrastreifen und Ampeln gibt. Das Konzept setzt auf das verständigen per Handzeichen und Blickkontakt – für mich als blindem Menschen nicht möglich.

Ich habe eine Infoseite zu Shared Space in Hamburg zusammengestellt. Auf ihr finden Sie Definitionsversuche und die Kritik der Blinden- und Sehbehindertenvereine und der Unfallversicherer. Außerdem nimmt die Grün-Alternative Liste Stellung zum Thema. Und es gibt Auszüge aus dem Gutachten der Stadt und eine Liste der vorgeschlagenen Straßen. Die Infoseite finden Sie unter http://www.bsvh.org/angebote/mobil/umwelt-verkehr/shared-space/.

Gemeinschaftsstraße, ohne uns

Blinden und sehbehinderten Hamburgerinnen und Hamburgern drohen Gefahren durch Gemeinschaftsstraßen und Kreisverkehre. Hamburgs Senat will sogenannte Gemeinschaftsstraßen und Kreisverkehre bauen. Sehbehinderte und blinde Menschen werden dadurch in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt.

Stellen Sie sich einmal folgendes vor: Alle Ampeln, Straßenschilder, Bürgersteige und Verkehrsregeln werden abgeschafft. Autofahrer und Fußgänger sollen sich per Blickkontakt verständigen. Gut, das klingt vielleicht ganz nett, irgendwie ungezwungen, menschlich, unkompliziert. Jetzt stellen Sie sich aber vor, dass Sie nichts sehen können. Würden Sie dann noch allein über eine Straße gehen?

Ich selbst bin blind und orientiere mich mit meinem Gehör und dem weißen Stock. Ich gehe allein einkaufen, zum Arzt und zu meiner Arbeit ins Louis-Braille-Center. Dabei höre ich auf den Straßenverkehr, auf Signalampeln und verlasse mich auf Verkehrsregeln. Wenn das alles wegfällt, kann ich mich nicht mehr selbstständig und sicher in der Stadt bewegen.

In Hamburg könnte das bald Wirklichkeit sein. Der schwarz-grüne Senat plant sogenannte Gemeinschaftsstraßen. Der englische Begriff hierfür ist Shared Space. Die Bezirke sollen geeignete Orte festlegen. Bisher sind zum Beispiel die Lange Reihe in St. Georg und die Eimsbütteler Osterstraße im Gespräch.

„Wenn man einander in die Augen blickt, dann kann eigentlich nichts mehr schief gehen!“ Das behauptete zumindest der Erfinder des Shared Space Konzeptes, Hans Monderman. Der Niederländer sagte weiter: „Die Leute wissen nicht mehr genau, was sie tun müssen, was ich auch beabsichtigt hatte. Denn nun suchen sie Augenkontakt. Und sobald der da ist, gibt es eigentlich keine Probleme mehr, weil Augenkontakt nur bei niedriger Geschwindigkeit möglich ist.“

Die Befürworter von Shared Space erhoffen sich ein Sinken der Fahrzeuggeschwindigkeit, weniger Unfälle, weniger Kosten, ein soziales Verkehrsverhalten, mehr Lebensqualität, eine Belebung öffentlicher Räume und nicht zuletzt eine Stärkung des Einzelhandels. Alles gute Argumente, die uns
jedoch völlig ausgrenzen.

Denn für uns sehbehinderte und blinde Menschen ist Augenkontakt nicht möglich. Und auch Kinder, Senioren und geistigbehinderte Menschen können überfordert sein. Deshalb hat sich der Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes auf seiner diesjährigen Sitzung entschieden gegen die Einführung von Shared Space Bereichen in deutschen Kommunen ausgesprochen, und dies weil:

  • Orientierung und Sicherheit für blinde und sehbehinderte Menschen in diesen Arealen grundsätzlich nicht gewährleistet sind;
  • die Fahrbahn weder visuell noch taktil erfassbar ist;
  • Bordsteinkanten als Orientierungshilfe fehlen;
  • die Aufnahme von Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern nicht
    möglich ist;
  • das Halten und Parken der Kraftfahrzeuge in diesen Bereichen nicht
    geregelt ist;
  • eine Geschwindigkeitsbeschränkung für diese Bereiche nicht
    gesetzlich festgelegt ist;
  • Leitlinien und Aufmerksamkeitsfelder in diesen Bereichen keine
    Verkehrszeichen im Sinne der Straßen-VerkehrsOrdnung darstellen.

Nach aktuellen Vorgaben soll in jedem der sieben Hamburger Bezirke eine Shared-Space-Fläche gebaut werden. Umsetzung und Folgen sollen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden. Schon sehr viel konkreter sind die Planungen für Kreisverkehre. Rund 100 Ampel-Kreuzungen sollen in Kreisel umgebaut werden. Grund: Kreisverkehre sind billiger. Es entfallen die Wartungskosten für Ampeln. Und wir haben wieder ein Problem: Wir orientieren uns vor allem am Wechsel des Verkehrsflusses. Wo stehen und wann fahren Autos? Ruhender Verkehr fällt bei Kreisverkehren weg, was eine selbstständige Überquerung erschwert und zusätzliche Gefahren für uns birgt. Mindestens müssen Überwege kontrastreich und ertastbar gekennzeichnet werden, damit wir sie zuverlässig finden können und bei einer Lücke im Verkehr selbstständig über die Straße kommen.

Vielen Politikern und Behörden-Vertretern sind die Gefahren von Shared Space und Kreisverkehren nicht bewusst. Das bedeutet viel PR-Arbeit in den nächsten Monaten. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg wird sich dafür stark machen, dass schlechte Augen nicht gleichbedeutend sind mit der Unfähigkeit, sicher über eine Straße zu kommen. Jeder, der uns dabei unterstützen möchte, ist herzlich willkommen. Wenn Sie Fragen oder Anmerkungen zum Thema haben, hinterlassen Sie gern einen Kommentar oder schreiben Sie mir eine E-Mail.

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