Wie gelangen sehbehinderte und blinde Menschen an Informationen? Diesem Thema widmet sich das Jahrbuch des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), das am vergangenen Sonntag in Hamburg vorgestellt wurde. In Reportagen, Kurzgeschichten und Interviews werden ganz unterschiedliche Aspekte beleuchtet: Ein Team von Hörfilm-Beschreibern wird bei seiner Arbeit begleitet. Ein Künstler, der Tastmodelle von Städten und Gebäuden aus Bronze gießt wird vorgestellt. Die Arbeit von Stadion-Kommentatoren wird lebendig, die sehbehinderten und blinden Fußball-Fans das Spielgeschehen schildern. Und selbstverständlich ist auch das Internet ein Thema.
Zwei Artikel widmen sich den Chancen und Risiken im Web. In meinem Beitrag schreibe ich u. A.:
Web 2.0 ist das Schlagwort für das Mitmach-Internet. Heute lesen wir nicht nur Homepages. Wir bringen uns aktiv ein. Auch ich bin mit Hilfe meines sprechenden Computers und einer Braillezeile im Internet. Ich lese und schreibe Kurzmeldungen auf Twitter, habe Freunde auf Facebook und schreibe in meinem Blog. (…) Im Internet ist es leicht, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Unsicherheiten zwischen Blind und Sehend spielen kaum eine Rolle. Das ist eine große Chance. Vorausgesetzt die Websites sind barrierefrei. Das ist nicht immer der Fall. Da tauchen bei Facebook plötzlich unbeschriftete Schaltflächen oder Grafiken auf, mit denen meine Sprachausgabe nichts anfangen kann. Und ich bin ausgegrenzt. Dennoch sollten sich sehbehinderte und blinde Menschen und ihre Vereine von diesen Hürden nicht entmutigen lassen. Aktuell besuchen 2,9 Mio. Bundesbürger Twitter. Das soziale Netzwerk Facebook kommt hierzulande aktuell auf 15 Mio. Besucher im Monat. Die deutschen Besucherzahlen steigen rasant, bei Twitter um 494% in einem Jahr, bei Facebook um 291%. Wenn sehbehinderte Menschen und ihre Selbsthilfe-Organisationen hier nicht präsent sind, schließen sie sich von einem wichtigen Teil der Gesellschaft aus.
Anders sieht das Eckhard Seltmann. Der 59Jährige ist seit rund 20 Jahren blind. Er nutzt selbst das Web, sieht aber die Gefahr der Vereinsamung blinder Menschen vor ihrem Rechner. Und er verweist darauf, dass der ganz überwiegende Teil der Betroffenen, nämlich die sehbehinderten Senioren, gar nicht online ist:
Viele ältere Menschen sind einfach nicht mehr willens oder in der Lage, sich mit den zum Standard erhobenen Hochtechnologieprodukten wie Computer, Netbooks, Handys oder MP3-Playern auseinanderzusetzen. Weil ihnen deren Funktionsweise nicht eingängig ist, weil sie mit den Programmvorgaben nicht zurecht kommen, weil sie von vornherein schon die Tasten- und Bedienungsvielfalt abschreckt. Und dann die immer neuen englischen Wortschöpfungen! Server, Explorer, Browser, Homepage, Link, Download, Mailbox, SMS, – herrje, was verbirgt sich bloß alles dahinter? (…) Die andere, altersunabhängige Überlegung soll dem Informationsbegriff an sich gelten. Es steht außer Zweifel, dass wir heutzutage – auch als Blinde – die Möglichkeit besitzen, uns weltweit umzutun, das heißt, mit einer Unzahl von Menschen oder Quellen in Kontakt zu kommen, um unser Bedürfnis nach Meinungsaustausch oder Wissenszuwachs zu befriedigen. Historisch betrachtet ist dies eine schier nicht zu fassende kommunikative Bereicherung, die durchaus auch als Gewinn von Lebensqualität interpretiert werden kann. Nichtsdestotrotz sei die Frage erlaubt, ob sie bei aller Euphorie vielleicht doch eher quantitative denn qualitative Züge trägt? Oder anders herum gefragt: Erhöht ein Mehr an Informationen zwangsläufig auch deren Mitteilungswert? (…) Noch nie war es für Blinde so leicht, dank digitaler Medien an Informationen zu gelangen oder welche untereinander auszutauschen wie heute. Gleichzeitig aber bestand noch nie die daraus erwachsende große Gefahr, mitsamt seinen blindengerechten Gerätschaften im elektronischen Dschungel verloren zu gehen und sich unbedachterweise seiner unmittelbaren sozialen Kontakte zu berauben.
Weitersehen 2011 – das Jahrbuch des DBSV. Ausgaben: Schwarzschrift (100 Seiten, Vierfarbdruck, Format 16 x 23 cm), DAISY-CD, Preis: 2,50 Euro, Erhältlich bei allen Landesvereinen des DBSV unter der bundeseinheitlichen Rufnummer 01805-666.456 (14 Cent/Min.).
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