Fernsehen als Blinder: Sound aufregender als im Hörspiel

Blinde Menschen sehen fern. Christian Ohrens (26) beweist dies. Er studiert Medienwissenschaften an der Uni Hamburg. In einem Interview erklärt er mir, wie er als Blinder Filme analysiert, was er über die TV-Gewohnheiten blinder Jugendlicher herausgefunden hat und woher ein blinder DJ weiß, ob das Publikum tanzt.

Heiko: Christian, Du forschst zum Thema Fernsehen und bist blind. Woher kommt Dein Interesse am TV?

Christian: Das Interesse für Film und Fernsehen war schon immer da, nicht erst seit Studienbeginn. Ich bin in meiner Kindheit quasi mit allen damals vorhandenen Medien (Buch, Audiomedien, Fernsehen, Video, etc.) groß geworden. Meine Eltern haben mir, trotz meiner Blindheit, den Zugang zum Fernsehen und zu Filmen ermöglicht, sind mit mir ins Kino gegangen etc., auch wenn ich die Bilder ja nicht sehen konnte. Ich habe entweder viel alleine oder auch gemeinsam mit anderen (z. B. meinen Eltern) fern- oder Filme geschaut und so bin ich mit damaligen Kinderserien und –Filmen sowie dem „Familienprogramm“ dieser Zeit aufgewachsen, kenne viele Kinder-TV-Helden der 90er Jahre – was unter ebenfalls blinden Kindern, dies musste ich in meiner Schulzeit dann feststellen, bei Weitem nicht selbstverständlich war. Mich faszinierten bei Cartoons beispielsweise die Storys, Figuren, die Welten, in denen sie sich bewegten, aber auch Spielfilme und –Serien oder Shows zogen mich in ihren Bann, also alles das, was auch sehende Kinder unter Anderem vor die Glotze zieht, jedoch gab es noch einen weiteren Faktor. Ich musste schon damals feststellen, dass Film und Fernsehen soundtechnisch mehr aufregendes bieten konnte als manch damaliges Hörspiel. Natürlich habe ich Hörspiele gehört, keine Frage, und das nicht zu knapp. Doch konnten mich auch Filme und Fernsehserien früh begeistern und begeistern mich auch heute noch.

Ich bin übrigens erst verhältnismäßig spät mit Audiodeskription in Berührung gekommen, was anfangs daran lag, dass ich über derartige Angebote schlichtweg nichts wusste ich aber auch später anfangs nichts davon wissen wollte. Die Vorstellung, dass jemand, wie der Erzähler beim Hörspiel, in die Geräuschkulissen und die Filmmusik reinquasselt war mir ein Gräuel. Ich mag z. B. auch sehr gerne Hörspiele, die von ihrer Aufmachung stark am filmischen Sounddesign angelehnt sind und zum Teil ohne Erzähler auskommen. Das lässt viel Spielraum für die eigene Fantasie und Interpretation und ist somit nichts anderes, als wenn man einen Film ohne Audiodeskription sieht.

Heute nutze ich sowohl beides, Filme mit, als auch ohne Audiodeskription, da ich gemerkt habe, dass ein Hörfilm manchmal Dinge vermitteln kann, die auf der akustischen Ebene eher weniger oder überhaupt nicht greifbar sind. Jedoch sind die meisten Sendungen im Fernsehen und Filme, die ich mir anschaue, weiterhin ohne Audiodeskription, ich mache eine Filmauswahl auch nicht abhängig von solchen Faktoren, denn viele Filme und Serien sind viel zu schade, als dass ich auf sie verzichten müsste, bloß weil sie über keine Bildbeschreibung verfügen.

Heiko: Welche Themen interessieren Dich in Deiner Forschung besonders?

Christian: Das ist sehr vielfältig und ist schwer an ein bestimmtes Interessensgebiet festzumachen. Zum einen wäre da das oben bereits erwähnte Sounddesign eines Films, welches in der Medienwissenschaft sehr oft nur in Verbindung mit dem Bild analysiert wird, jedoch bei einem genaueren Blick sehr viel vielschichtiger und aussagekräftiger sein kann.

Das zweite große Thema ist die mediale Vermittlung von Menschenbildern, so z. B. die Verwendung von gängigen Klischees und Stereotypen in TV-Sendungen und was diese beim Zuschauer auslösen oder bewirken können. Jeder kennt das Beispiel des Blinden, welcher in einer Filmszene eine andere Person abtastet. Oder wer erinnert sich nicht an den „Wetten, dass…“ –Auftritt, bei dem ein Teilnehmer vorgab, Farben fühlen zu können. Wer noch nie mit einem Blinden zu tun hatte könnte jetzt denken, dass beide Situationen – auch wenn die erste nur fiktiv, d. h. für den Film erfunden ist -,, dass blinde Menschen so handeln. Dass ist nur ein kleines Beispiel unter vielen.

Dann wären da noch die Themen Nutzungsforschung und Programmanalyse – Ersterem habe ich mich ja in meiner Bachelor-Studie zugewandt, letzterem Thema widme ich mich derzeit in einem Forschungsprojekt, bei dem es, grob umrissen, um die Veränderungen im Kinderfernsehen in den letzten zwanzig Jahren geht.

Heiko: Viele Menschen können sich nur schwer vorstellen, wie man als Blinder Filme analysiert. Erzähl mal: Wie arbeitest Du konkret?

Christian: Die Basics zur Filmanalyse, also Grundkenntnisse über Erzählstrukturen, Kameraeinstellungen, Wirkung von Filmmusik etc., werden ja während der Seminare, die ich besucht habe bzw. besuche, vermittelt und anhand derer hangelt man sich dann entlang. Generell ist es so, dass mir die Filme, die wir uns innerhalb eines Seminars an der Uni anschauen, von einem Kommilitonen beschrieben werden. Diese Beschreibung geht jedoch oftmals weit über die rudimentären Audiodeskriptionen hinaus. Sie erfolgt synchron zur Filmhandlung, d. h. die Handlung am Bildschirm wird sofort und nicht erst in einer Dialogpause beschrieben und ist somit zwangsläufig genauer, da derjenige, der den Film beschreibt, nicht auf eine kurze Dialogpause im Film angewiesen ist. Neben der direkten Filmhandlung werden natürlich auch die Einstellungen und Perspektiven der Kamera beschrieben.

Es ist klar, dass ich nur schwer einen Film anhand der visuellen Ausgestaltung analysieren kann. Aber meistens wird die Analyse im Rahmen eines Referats im Seminar eh auf mehrere Teilnehmer aufgeteilt, d. h. ich kann einen Bereich auswählen, den ich dann analysiere. Das kann beispielsweise die Erzählstruktur sein, also Erzählperspektive, Personen, Ebenenwechsel wie z. B. in „Existence“, wo die Figuren in ein Computerspiel eintauchen etc. Hier spielen natürlich Dinge wie die visuellen Effekte und Kameraeinstellungen eine große Rolle, aber hier hilft es, wenn ich mir noch mal die zu analysierenden Szenen genau beschreiben lasse. Aber auch Dinge wie Sounddesign, Dialoge u. v. m. können Teil einer Filmanalyse sein.

Heiko: Du hast Dich unter Anderem mit den TV-Gewohnheiten blinder Kinder auseinandergesetzt. Was waren die zentralen Erkenntnisse Deiner Forschung?

Christian: Auch blinde Kinder und Jugendliche schauen fern und das in einem größeren Umfang, als der Sehende es vielleicht vermuten mag. Nicht nur für sehende Jugendliche ist Fernsehen Leitmedium, auch blinde junge Menschen schauen Soaps, Castingshows, Serien, Spielfilme, Nachrichten etc. Einziger Unterschied besteht in der Sendungsauswahl und der zeitlichen Zuwendung. Beides ist bei blinden Zuschauern ein wenig anders gelagert. Die Zeit, die blinde Zuschauer vor dem Fernsehen verbringen ist geringer als bei Sehenden. Bei der Sendungsauswahl wird hier mehr auf wortlastige Formate zurückgegriffen. Das Fernsehen ist auch bei blinden Jugendlichen Gesprächsthema, wobei sich einige Befragte auch mehr Austausch wünschen würden. Es dient primär zur Entspannung, bei der Informationsbeschaffung werden andere Medien bevorzugt.

Heiko: Oft tun sich Menschen im Gespräch mit uns Blinden schwer, das Wort Sehen in den Mund zu nehmen. Was antwortest Du denen?

Christian: Das Wort Sehen ist bereits durch so viele Begriffe in unsere Sprache integriert, dass es oftmals schwer ist, eine Alternative für ein Wort oder einen Ausdruck zu finden. Denn wenn man alle Wörter und Phrasen, die das Wort „Sehen“ beinhalten, umschreiben und durch andere Ausdrücke ersetzen würde, so würde eine eigene „Blindensprache“ entstehen und das ist ja am wenigsten sinnvoll. Denn wir Blinde benutzen die Ausdrücke ja auch. Aber viele sind ja vorsichtig, weil sie Angst haben, mit dem, was sie sagen, jemanden zu „verletzen“. Aber gesetz dem Fall, dass ein Blinder nicht mit seiner Blindheit umgehen kann und mit einem Ausdruck, welcher das Wort „Sehen“ beinhaltet, so seine Schwierigkeiten hat, so ist das ja nicht das Problem des Sehenden.

Heiko: Dein Leben besteht nicht nur aus der Uni. Du arbeitest als DJ. Wo kann man Dich hören und was legst Du auf?

Christian: Ich arbeite ja seit elf Jahren schon bei Lokalradios, zuerst in Marburg, seit 2005 ja hier in Hamburg. Auf TIDE 96.0 bin ich jeden Freitag ab 23:00 Uhr sowie auf einem kleinen berliner Internetradio (www.tm-productionradio.de) mit einer eigenen Sendung on Air, bei der ich Musik aus den verschiedensten Genres der elektronischen Musik spiele, Bands vorstelle und interviewe, über Konzerte berichte etc.

Zudem bin ich als DJ unterwegs und bin regelmäßig im Imoto, einer kleinen Bar in Ottensen alle zwei Wochen Mittwochs. Dort gibt es dann auch elektronische Musik auf die Ohren.

Heiko: Und noch eine Blinden-Frage: Kriegst Du eigentlich mit, wie Deine Musik im Club ankommt? Schließlich siehst Du ja nicht, wie viele Besucher zu den Sounds tanzen.

Christian: Niemand schweigt, wenn er – vor allem mit mehreren anderen – eine Bar oder einen Club besucht. Man hört ja, ob die Stimmen sich bewegen etc. Natürlich bin ich auch auf Feedback angewiesen, aber so lange niemand etwas verlauten lässt gehe ich immer davon aus, dass alles in Ordnung ist. Dies verschafft mir natürlich einen gewissen Spielraum für Experimente. Denn ich glaube, wenn ich sehen würde, wie die Leute sich zu bestimmten Titeln bewegen, würde ich vielleicht nur auf ähnliche Titel zurückgreifen und dafür Anderes, das aber stilistisch auch gut ins Set passen würde, gar nicht erst auflegen.

Heiko: Kann man Dich buchen?

Christian: Ja, das kann man, für Partys jeglicher Art. Und hier beschränkt sich die Musik nicht nur auf Electro und Ähnliches. Dies ist mein persönliches Steckenpferd, was aber nicht bedeutet, dass ich nicht in der Lage bin, auch andere Styles aufzulegen. Von 80s bis aktuell ist alles drin, wenn es gefordert wird auch Schlager oder, wer es ganz ausgefallen mag, auch z. B. Gothic.

Heiko: Werfen wir noch einen Blick in Deine Zukunft: Wie geht’s weiter mit Uni und dem DJ-Dasein?

Christian: Im Winter diesen Jahres werde ich meine Masterarbeit schreiben und abgeben, sodass ich im Februar 2012 mit der mündlichen Prüfung mein Masterstudium abgeschlossen habe. Tja, und dann? Ich habe gemerkt, dass mir Forschung sehr viel Spaß macht und werde natürlich versuchen, in diese Richtung irgendwo was passendes zu finden. Und wenn das nicht klappt, so könnte ich mir auch vorstellen, im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu arbeiten. Mein ursprüngliches Ziel, einmal zum Radio zu gehen und dort irgendwas im Musikbereich zu machen, habe ich größtenteils aufgegeben, denn ich habe während des Studiums festgestellt, wie Radio wirklich gemacht wird, vor allem der „Dudelfunk“ und das ist nichts, was mich wirklich anspricht. Da bleib ich lieber bei lokalen Kanälen. Da hat man zwar weniger Hörer, kann dafür aber seine Sendungen nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten.

Aber wer weiß schon, wo er einmal landen wird? Viele mögen diese Einstellung als ziellos abwerten. Aber es gibt so viele, die blindlinks auf ein einziges Ziel zusteuern, ohne die Abzweigungen am Wegesrand zu sehen.

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Erblinden eines Siebenjährigen: Leben in einer neuen Welt

Ich kann mich an keinen Traumatischen Moment erinnern. Mit sieben Jahren erblindete ich durch eine Operation. Das letzte, was ich in meinem Leben gesehen habe, waren meine Eltern, die an meinem Krankenhausbett standen. Und dann war da noch eine Frau – ich glaube, sie war die Mutter eines anderen Kindes von der Station – und eine Ärztin. Ich hatte damals große Angst vor Spritzen. Und so weinte ich auch jetzt wieder, weil ich die Narkose-Spritze nicht wollte. Aber hatte ich in diesem Moment Angst vorm Blindsein? Fürchtete ich, nie wieder auf einem Spielplatz toben zu können? War ich traurig, weil ich nie wieder würde Bilder malen können? Hatte ich doch kurz zuvor einen Malwettbewerb der Kleinstadt gewonnen, in der meine Eltern und ich damals lebten. Die Urkunde bekam ich einige Wochen nach meiner OP – als Blinder, der den ersten Preis in einem Malwettbewerb gewonnen hatte.

Meine Eltern hatten die Ärzte gebeten, mit mir raus gehen zu dürfen, in die Natur, damit ich noch einmal einen Baum sehen könnte. Damals konnte ich die traurige Schönheit dieses Wunsches nicht begreifen. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, diesen Wunsch geteilt zu haben. Zum Glück, denn er wurde nicht erfüllt. Die Zeit drängte. Die Operation musste schnell erfolgen. Alles Andere wäre lebensgefährlich gewesen. Als ich aus der Narkose erwachte, war ich blind.

War das ein Schock? Wenn ja, dann kann ich mich daran nicht erinnern. Ich erinnere mich ans Tasten, ans Neuentdecken der Welt. Ich stellte zum Beispiel fest, dass ich viele meiner Hörspielkassetten unterscheiden konnte. Manche Hüllen waren geriffelt, andere nicht, die Kassetten waren rau oder glatt, ihre Löcher waren eckig, andere rund, bei manchen konnte man in der Mitte das Band fühlen, andere hatten dort eine rechteckige Kunststoffplatte. So erkundete ich die Welt, erschloss mir meine kleine Kinder-Umwelt neu.

Und ich erinnere mich an die Traurigkeit meiner Eltern, meine Mutter, die fragte „konntest Du die Kassette sehen?“, nur weil ich die Drei-Fragezeichen-Folge auf Anhieb mit meinen Händen fand. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Junge nichts mehr sah. Kinder wollen nicht, dass ihre Eltern traurig sind. Dieses Nichtwollen war wohl ein wichtiger Ansporn, schnell wieder selbstständig zu sein. Ich wollte meinen verunsicherten Eltern zeigen, dass ich auch als blindes Kind gut in der Schule sein, Freunde finden und fröhlich sein konnte.

All das geschah nicht bewusst. Es geschah einfach. Das Leben ging weiter. Die Blindenschule begann wenige Monate nach der OP. Ich lernte die Brailleschrift und verschlang schon bald Kinderbücher in Hülle und Fülle. Mit sieben, acht, neun Jahren will man die Welt entdecken. Ich entdeckte die Welt in der Literatur. Und ich wollte so gut lesen, wie die Menschen im Radio (in den 80ern wurde im Radio noch gesprochen). Ich las laut vor, selbst wenn niemand zuhörte.

Es soll hier keineswegs der Eindruck entstehen, dass Erblinden ein Ponyhof sei. Ich erinnere mich gut an mein erstes Jahr an der Hamburger Blinden- und Sehbehindertenschule, an das selbstständige Gehen über den Schulhof – tastend, unsicher, ängstlich – und an die Panik, die in mir aufstieg, wenn ich mich verlaufen hatte, an die Tränen, die Hilflosigkeit, die Scham. Ich war ein wilder Junge gewesen, als ich noch sehen konnte, war durch die Kleinstadt gerannt, hatte mich mit anderen Kindern gerauft. All das schien mir nach meiner Erblindung unmöglich, auch weil mein kompletter sehender Freundeskreis weggebrochen war. Es gab noch ein, zwei von unseren Eltern angeleierte Treffen mit dem Nachbar-Jungen. Sie waren bedrückend. „Jetzt können wir nicht mehr miteinander spielen“, sagte er. Ich wusste noch nicht, dass das Quatsch war. Ich suchte mir neue Freunde. Sie waren blind oder sehbehindert.

Web-Elite: Das ist nicht meine Verschwörung

Allmählich scheint ein Teil der digitalen Meinungsführer abzuheben, sich in einem elitären Wahn zu ergehen, der nicht mehr feierlich ist. Er zeugt von einer vollkommenen Überschätzung der Onlinewelt. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls Michael Seemann in seinem Text „Unsere Verschwörung“. Es habe damit begonnen, dass beinahe alle Hochschulabsolventen einen Auslandsaufenthalt vorweisen könnten. Im Web kommuniziere die Mittel- und Oberschicht in englischer Sprache, sie vernetze sich ganz selbstverständlich, tausche sich auf englischsprachigen Konferenzen aus. Diese angeblich neue Elite flechte ein engmaschiges Netz und löse sich vom Nationalstaat und seinen Denkmustern.

Die gebildete Mittelschicht in meinen Alter hat viel mehr kulturelle Schnittmengen mit seinem Pendant in anderen Ländern (und zwar egal in welchen), als mit meinem Nachbarn. Der Nachbar, der ungebildet ist und jenseits der 40 und statt “The Wire” im Original Nachmittags-Talkshows auf deutsch anschaut. Die kulturellen Unterschiede verlaufen nicht mehr entlang von Entfernungen, sondern immer mehr entlang einer internationalen, kulturell vernetzen Elite.

Seemann geht noch weiter. Für ihn richte sich die Verschwörung der neuen Elite gegen den eigenen Nachbarn:

Es ist eine Verschwörung, die gegen ihn geht. Die Welt wird global und lässt ihn, in dieser verfallenden Struktur namens “Nation” zurück. Da oben, wo er mangels Bildung oder geistiger Mobilität keinen Zutritt hat, werden die wichtigen Beziehungen geknüpft. Dort werden die kulturellen Meme getauscht, die in Zukunft Relevanz haben. Dort werden die Diskurse geführt, die ihm fremd bleiben werden, die aber die Zukunft bestimmen. Dort akkumuliert sich die neue Macht, die sich nicht mehr um sein Wohlergehen schert. Eine Elite, die sich selbstgefällig freut, wenn wieder eine Autofabrik dicht gemacht wird (Umweltschutz!). Die kein Mitleid kennt mit Druckerpressen, Arbeitsplätzen, Lohnfortzahlung, Festanstellung, familiäre Werte, Heimat, kleines Glück, Bauer sucht Frau, korrekten Schreibweisen, Briefmarken und Silberleuchtern.

Der Autor beschreibt im Gestus des aufklärenden Provokateurs ein vermeintlich neues Phänomen, das aber überhaupt nicht neu ist. Schon vor dem ersten Weltkrieg tauschte sich die – damals meist noch adlige – Elite auf einer gemeinsamen Ebene aus, sprach französisch und networkte in Königshäusern und Fürstentümern. Dennoch zog man 1914 gegeneinander in einen gnadenlosen Krieg. Und auch das kosmopolitische Berlin der 20er Jahre konnte den Nationalsozialismus nicht verhindern. Und ich möchte mal sehen, wie frei Deutschlands digitale Oberschicht von nationalen Denkmustern ist, wenn Terroranschläge oder gar Krieg das moderne Office und den trendigen Lebensstil bedrohen oder das hippe Loft in die Luft sprengen. Die Geschichte zeigt, dass dann ein Jahr Studium in den USA oder ein internationales Network weniger Einfluss haben als die Sozialisation im eigenen Land. Unser Denken und Handeln ist maßgeblich vom eigenen Elternhaus, von Kindergarten und Schule beeinflusst – das weiß jeder Küchenpsychologe.

Klar ermöglicht das Web ein umfassenderes Verständnis der Welt, liefert uns mehr Sichtweisen. Wir schauen Al Jazeera im Lifestream, wenn wir etwas über Ägypten wissen wollen, nicht mehr die Tagesschau um 20 Uhr. Dennoch ist der Kosmos der digitalen Elite immer noch stark westlich geprägt – oder wie häufig twittern wir denn mit Indern, chatten wir mit Menschen in Kenia? Wann verlinkt ein deutscher Blogeintrag auf einen Post aus China?

Wir neigen dazu, unsere Erfahrungen zu verallgemeinern. Das, womit wir uns tagtäglich beschäftigen, muss wichtig sein, sonst würden wir es ja nicht tun. Seemann setzt noch einen drauf und spricht von einer Weltverschwörung, an der er sich liebend gern zu beteiligen scheint. Ihm würde ein kleiner Offline-Reality-Check gut tun. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe das Internet, den Austausch mit anderen Menschen und Ideen, Kulturen und Erfahrungshorizonten. Ich bin gern auf Reisen und unterhalte mich mit Menschen im Ausland. Das Web bietet Tools, die diese Kommunikation erleichtern. Diese Tools verpflichten aber nicht dazu, nur im eigenen Mittel- und Oberschichtsaft zu schmoren. Im Gegenteil: es strömen immer mehr Menschen ins Internet, die bisher am Rande der Gesellschaft leben – psychisch Kranke, Behinderte, Arme. Das WWW bietet die große Chance, andere Denkweisen kennen zu lernen und die eigenen zu hinterfragen. Das scheint Seemann nicht zu wollen, stattdessen feiert er die digitalen Verschwörer. Diese scheinen sich nicht nur vom Konstrukt des Nationalstaates zu verabschieden, sondern gleich von jeder sozialen Realität.

Nachtrag: Wie ich Twitter entnehmen konnte, hat Seemann bewusst eine gruselige Wortwahl gewählt, um uns zum Nachdenken zu bringen. Das hat er dann ja wohl geschafft.;-)

Hörbuch-Sonntag: Drei Kurzrezensionen

Wo sind all die Emotionen hin? Diese Frage stellt sich manches Mal in unserer modernen Welt voller digitaler Zerstreuung, ökonomischer Zwänge und zivilisatorischer Behaglichkeit. Will man mal wieder so richtig sentimental werden, sich den existenziellen Fragen nach Leben und Tod stellen oder denen nach der Gestaltbarkeit des eigenen Daseins, dann nimmt man am Besten ein Buch zur Hand oder genießt ein Hörbuch – so wie ich es beinahe schon exzessiv am vergangenen Sonntag getan habe. Drei Bücher hab ich beendet oder gleich von vorn bis hinten gehört. Hier mein kurzes Fazit:

Melancholisch-sentimental und dennoch leicht kommt die kurze Erzählung „Ein geschenkter Tag“ von Anna Gavalda daher – optimal für einen Sonntagmorgen. Drei Geschwister, die einer garstigen Schwägerin, der steifen Hochzeit ihres Cousins und den starren Konventionen entfliehen und lieber ihren Bruder in einem einsamen Schloss besuchen. Wie immer schreibt Gavalda über die Suche nach dem Glück, über das Erwachsenwerden und die Möglichkeiten, sich dem Ernst des Lebens zu verweigern – zumindest für ein paar glückliche Momente im Kreise der Liebsten, der Menschen, die einem Wirklich etwas bedeuten. Katharina Wackernagel trifft den passenden Ton und leiht der unangepassten, einsamen Ich-Erzählerin schöne zwei Stunden lang ihre Stimme.

Während im vergangenen Jahr Jonathan Franzzens Roman „Freiheit“ gefeiert wurde, habe ich endlich eine Bildungslücke geschlossen und seinen Roman-Durchbruch „Die Korrekturen“ gelesen. Streng und konservativ wachsen drei Geschwister auf. Sie haben zu knabbern an ihren familiären Wurzeln und versuchen die Fehler der Eltern irgendwie zu korrigieren. Dass das gar nicht so leicht ist – zumal wenn der Vater an Demenz und Parkinson leidet und die Mutter in ihren Denk- und Verhaltensweisen erstarrt ist – wird in diesem Roman mehr als deutlich. Es tut weh, der gnadenlosen Erzählweise Franzens zuzuhören, ein Schmerz, der gut tut, der zum Nachdenken anregt: über all das, was wir seit unserer Kindheit mit uns herumschleppen, über die Möglichkeit, unserem Leben eine neue Richtung zu geben. Das Hörbuch wird von Ulrich Pleitgen nüchtern und angemessen vorgetragen. Leider ist der 700-Seiten-Roman auf lediglich zehn CD’s eingedampft.

Philosophisch und nachdenklich ist schließlich Pascal Merciers Roman „Nachtzug nach Lissabon“. Die Kurzbeschreibung auf Audible.de fasst den Inhalt so zusammen:

Raimund Gregorius, alternder Lateinlehrer, entdeckt in einem Antiquariat das Buch des Portugiesen Amadeu de Prado, dessen Betrachtungen über menschliche Erfahrungen, über Einsamkeit, Endlichkeit und Tod, Freundschaft, Liebe und Loyalität ihn nicht mehr loslassen und am Abend setzt er sich in den Nachtzug nach Lissabon. Er möchte herausfinden, wer dieser Amadeu de Prado war. Es beginnt eine rastlose Suche kreuz und quer durch Lissabon, die Suche nach einem anderen Leben, nach einem ungewöhnlichen Arzt und Poeten, der gegen die Diktatur Salazars gekämpft hat.

Gregorius lässt sein monotones Leben hinter sich, seine Arbeit, sein Land. Er lässt sich vollkommen auf Portugal, seine Menschen und seine Geschichte ein. Er taucht regelrecht in sie ab. Und doch findet er erst hier zu sich, stellt sich die Frage nach seinen eigenen Träumen und setzt sich mit seiner Vergangenheit auseinander. Walter Kreye trägt die gekürzte Lesung gewöhnungsbedürftig ruhig, märchenonkelmäßig vor. Wer eine tiefsinnige und nachdenkliche Lektüre zu schätzen weiß, für den lohnen sich die knappen acht Stunden aber sehr.

Kennen Sie eines der Bücher? Wenn ja, wie fanden Sie es?

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