Mobilität: Blind im Winter

Seit Wochen ist der Boden gefroren. Alter Schnee hat sich in dicke Eisplatten verwandelt und liegt auf den Gehwegen. Darauf ist gestern eine ordentliche Portion neuer Flocken gefallen. Heute dann Plusgrade, sprich: kurzzeitiges Tauwetter. Meine heutigen Arbeitswege mit weißem Stock und akustischer Orientierung waren dementsprechend nur mäßig prickelnd. NDR-Info-Reporter Kersten Mügge hat mich zum Thema gefährliche Fußwege interviewt. Seinen Beitrag können Sie in der NDR-Mediathek nachhören (der Heiko Reichert im Beitrag bin ich). Der Autor und Fachjournalist Markus Ungerer hat den Radio-Bericht zum Anlass für einen Blog-Beitrag genommen. Dafür einen herzlichen Dank!

Blindengeld: Schluss mit der Abwärtsspirale

Die Blindengeld-Sau wird mal wieder durch ein Dorf gejagt, diesmal durchs schleswig-holsteinische. Dort erwägt die schwarz-gelbe Landesregierung eine Kürzung. Und wie bereits in Mecklenburg-Vorpommern wird argumentiert, dass es andere Bundesländer gebe, in denen die Leistung niedriger ausfalle. Wann werden die Meinungsmacher in diesem Land endlich verstehen, dass man mit dieser Logik den Nachteilsausgleich auf null Euro drücken kann? Irgendwo ist er immer niedriger. Diese Abwärtsspirale muss endlich durchbrochen werden. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hatte sich bei der letzten Bürgerschaftswahl vor zwei Jahren für eine Erhöhung des Blindengeldes in der Hansestadt stark gemacht. Und immerhin ist die Leistung seitdem um ca. 15 Euro monatlich gestiegen. Das war ein kleiner Erfolg, der aber durch skrupellose, kurzsichtige Politiker in Hamburgs nördlichem Nachbarland torpediert wird.

Blindengeld ist eine Leistung, die Menschen bekommen, die dem Gesetz nach blind sind: Sie sehen auf dem besseren Auge weniger als zwei prozent. Mit dem Geld sollen Betroffene in die Lage versetzt werden, einige Nachteile auszugleichen. Die Gesellschaft ist voller Barrieren. Um ein einigermaßen selbstständiges und integriertes Leben führen zu können, legt das Sozialgesetzbuch XII in §72 einen finanziellen Mehrbedarf von 608,96 Euro fest. Dennoch zahlt Hamburg derzeit nur 463,92 Euro, Schleswig-Holstein 400 und Niedersachsen sogar nur 265 Euro an blinde Menschen im Monat.

Das hört sich vielleicht immer noch viel an. Ist es aber bei genauerem Hinsehen nicht. Wofür nutzen blinde Menschen wie ich das Geld?

Begleitpersonen: Leider ist unsere Gesellschaft nicht so organisiert, dass wir überall allein, selbstständig und unbeschwert unterwegs sein können. Theater- und Konzert-Besuche sind für viele Betroffene nur in Begleitung möglich. Ein paar Tage Urlaub kosten gleich das Doppelte, wenn man eine (fremde) Begleitung mitnehmen muss. Die meisten blinden Menschen sind im Senioren-Alter. Sie sind relativ neu mit der Situation konfrontiert. Sie haben keine oder wenige Angehörige. Sie wünschen sich Unterstützung im Haushalt, bei Einkäufen, für einen Spaziergang. Diese Menschen brauchen Blindengeld, um ihre Assistenten zu bezahlen.

Taxi-Fahrten: Stellen Sie sich vor, sie könnten keine Straßenschilder und Bus- und Bahn-Anzeigen mehr lesen. Sie wüssten nicht, ob Sie sich gerad an einer Kreuzung mit oder ohne Ampel befinden. Fremde Wege sind für die meisten blinden Menschen nicht machbar. Muss ich zu einem Facharzt, bei dem ich noch nie war, oder zu einem Amt, dann brauche ich ein Taxi.

Blindenschrift: Braille-Bücher sind teuer und brauchen viel Platz. „Der Herr der Ringe“ kostet zum Beispiel 307 Euro und umfasst 15 Punktschrift-Bände – jeder Band ist ca. 35 x 30 x 7 cm groß. Vom Blindengeld kann ich mir Bücher – die Auswahl ist sehr klein – leisten. Hinzu kommen Zeitschriften in Braille. Lesen zu können, das ist einge Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, für Bildung, berufliche Chancen. Jede Blindengeld-Kürzung verringert die ohnehin zu geringen Chancen vieler blinder Menschen in Deutschland.

Hilfsmittel: Es gibt viele Produkte, die blinden Menschen den Alltag erleichtern. Das Spektrum ist weit und reicht von Markierungspunkten, um das Waschmaschinen-Programm selbst einstellen zu können (ca. 7 Euro), bis zu sprechenden Computern mit einer Braillezeile (bis 10.000 Euro). Was jeder Einzelne braucht, weiß der Betroffene selbst am besten.

Das war die große Errungenschaft des Blindengeldes: Blinde Menschen konnten mit dem Geld einige Barrieren überwinden, an der Gesellschaft teilhaben und es für die individuellen Bedürfnisse verwenden. Politiker, die das Blindengeld infragestellen, stellen das gesellschaftliche Miteinander von blinden und sehenden Menschen infrage.

Blinde Passagiere: Die Reise geht weiter

Das Theater-Jahr hat begonnen: Am vergangenen Freitag haben wir Auszüge aus „Blinde Passagiere“ beim Fünf-Jahresfest der Volkshochschule Hamburg-Ost aufgeführt. Der teilweise rustikale Humor wurde mit vielen Lachern honoriert, die alten Songs brachten Stimmung und Erinnerungen in die Hütte. Und als das Publikum bei den Capri-Fischern mitsang, ging das ans Herz.

Viele engagierte Menschen waren unter den Zuschauern: Volkshochschullehrer, Vertreter der Schulbehörde, Lokalpolitiker. Sie alle waren voll des Lobes für unser blind-sehendes Projekt. Hoffentlich tragen sie ihre Begeisterung in die Stadt, damit wir auch zukünftig Auftrittsorte und Förderung erhalten.

Die Aussichten für dieses Jahr sind bisher positiv: So nehmen wir an der Kultur-Woche mit blinden und sehbehinderten Künstlern im August teil. Wir hoffen auf maritime Auftritte im Juni (leider noch nicht spruchreif) und wir spielen „Blinde Passagiere“ im Februar. Ich freue mich auf viele Blind-PR-Besucher im Publikum. Hier ein kurzer Infotext zur Wiederaufnahme:

Blinde Passagiere: Das See-Musical der 50er

4. + 5. Februar, jeweils 20 Uhr

7. Februar, 18 Uhr

Zehn blinde und sehende Schauspieler entführen das Publikum mit ihrem turbulenten „See-Musical“ auf dem alten Frachter „Tantici 2“ in das Lebensgefühl der 50er Jahre. Zwischen Sissy und Wirtschaftswundern gibt es ein Feuerwerk an Leidenschaft, neu arrangierten Liedperlen und mitreißender Musik. Mit an Bord: eine eigenwillige Crew, illustre Passagiere und das Gesangsterzett „Triett kokett“ als Blinde Passagiere. Nach Sturm und Maschinenschaden mitten im indischen Ozean ist plötzlich alles möglich: Das Ende oder ein Neuanfang auf einer einsamen Insel…

Nach der gefeierten Premiere im Oktober ist „Blinde Passagiere“ nun wieder zu erleben: überraschend und süchtig machend!

Mit: Katharina Friese, Bernard Geiter, Christel Marzillier, Anna-Karina Handke, Heiko Kunert Janine Zehe, Michael Kaphengst, Elena Sanchez, Daniella Rothsprach, Arash Beigi-Khusani

Regie und Stück: Jörn Waßmund

Musik: Alex Goretzki, Frank Wacks, Andrew Krell

Bühne: Heidrun Schüler

Kostüm: Ingrid-Kristin Wöhling

Regieassistenz: Sandra Poschenrieder

Karten: (13 / erm. 9 €) unter: 040 – 63947041 und info@kbb-hamburg.de

Dauer: 2,5 Std., 1 Pause

Den Flyer zum Download und weiter verbreiten gibt es
hier (Blinde Passagiere.pdf)

Perspektiven (4): „Sie verstehen es einfach nicht“

Das war jetzt das vierte Weihnachtsfest, seitdem Ines Kilias erblindete. Bei einem Auftritt des Chores des Reichenbacher Gymnasiums am 9. Dezember 2006 im Zwickauer Dom verlor das Mädchen binnen weniger Stunden das Augenlicht. Erst glaubten alle an einen entzündeten Sehnerv. Doch als keine Besserung eintrat, stellten die Ärzte psychogene Blindheit fest. Weil ihre Psyche oder irgendein anderer unbekannter Vorgang im Gehirn sie hindert, kann sie nur noch zwischen hell und dunkel unterscheiden. Doch die junge Reichenbacherin gab nicht auf, 2009 machte sie ihr Abitur. Das Goethe-Gymnasium Reichenbach ließ sich auf das Experiment ein. Ihr Abschluss mit einem Durchschnitt von 1,8 ließ aufhorchen und freute Ines Kilias außerordentlich. Nicht fassen konnte sie indes Reaktionen aus dem Sozialamt des Vogtlandkreises. „Da gibt es offenbar Menschen, die meinen, wenn man ein so gutes Abi hinlegt, könne die Behinderung so schwer nicht sein“, sagt sie.

In der Reichenbacher Zeitung (Freie Presse) schildert Gerd Betka den Fall in der Ausgabe vom 28. Dezember 2009. Betka beschreibt weiter, dass die Behörden Ines einen Schwerbehindertenausweis verweigern. Grund: Ihre seltene Krankheit führe lediglich zu einem Grad der Schwerbehinderung von 30%. Einen Schwerbehindertenausweis gebe es aber erst ab 50%. Jetzt entscheiden die Gerichte. Immer wieder sind Menschen, die unter Sehverlust leiden in Deutschland gezwungen gegen unflexible Behörden und Krankenkassen rechtlich vorzugehen. Dabei haben viele von ihnen genug damit zu tun, ihren persönlichen Alltag zu meistern.

Sina Ruthe ist 23 und vor sieben Jahren durch einen Tumor erblindet. Ihren Weg in ein neues Leben beschreibt Tobias Schneider am 30. Dezember 2009 in der Lippischen Landes-Zeitung:

„Nach der Operation war sehr viel Frust in mir, denn mein altes Leben gab es plötzlich nicht mehr.“ Sina verlässt ihre alte Schule und absolviert ein professionelles Mobilitätstraining in Lage und Marburg. Dabei lernt sie zum Beispiel, wie man sich am besten in Räumen bewegt oder wie man einen Blindenstock benutzt. Zudem macht sie sich mit der Punktschrift vertraut. (…) Ihr Schicksal hat Sina mittlerweile, so gut es geht, akzeptiert: „Es war ein mühsamer Prozess, der noch immer nicht ganz abgeschlossen ist“, räumt sie ein. „Doch ich bin jetzt ein gutes Stück in mir selbst angekommen.“

Oft ist es nicht die Behinderung selbst, die Betroffene behindert, sondern es ist die Umwelt. Vor allem sind es Vorurteile der Mitmenschen. Das erlebten auch Silja und Guido Korn, sie blind, er sehend. Heute hat das Paar einen 18jährigen Sohn. AP-Redakteurin Alexandra Barone schildert die Erinnerungen des glücklichen Ehepaares in der Epochtimes vom 5. Januar 2010:

„Wenige haben Verständnis dafür und für Viele ist das überhaupt nicht vorstellbar, sie verstehen es einfach nicht. Meine Familie war gegen unsere Beziehung. Sie sagten: ‚Die ist doch blind‘, und ich soll mir überlegen, was ich da mache und was alles auf mich zukommt.“ Nicht nur in der eigenen Familie ist Guido Korn auf Unverständnis gestoßen. Die Gesellschaft hat ihn sogar als „Freak“ betrachtet, weil er sich in eine behinderte Frau verliebt hat. Seine Frau Silja hatte mit anderen Problemen zu kämpfen. Wegen schlechter Erfahrungen wollte sie sich zunächst gar nicht auf eine Beziehung einlassen. „Viele Männer sagten einfach: ‚Es ist nett, sich mit Dir zu unterhalten, Du bist ganz hübsch, aber mehr wollen wir nicht.‘ Und andere sagten: ‚Ich möchte gerne nur ausprobieren, wie es sexuell mit Dir ist, denn Blinde haben ein viel feineres Gefühl als Sehende’“, erklärt Silja. Bei ihren ersten Treffen war sie daher noch misstrauisch – doch schnell merkte sie, dass Guido wirklich an ihr interessiert war, nicht an ihrer Behinderung.

In „Perspektiven“ stelle ich lesenswerte Beiträge rund um Augenerkrankungen, Sehbehinderung und Blindheit vor. Viele weitere Linktipps erhalten Sie von mir via Twitter.

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