Große Koalition: Gewurschtel in der Behindertenpolitik

Ich hatte sowas befürchtet. In der alten – und wahrscheinlich auch neuen – Bundesregierung scheint die Meinung vorzuherrschen, dass man mit dem Bundesteilhabegesetz sein Soll in Sachen Behindertenpolitik erfüllt hat. Dabei war das Teilhabegesetz keineswegs ein großer Wurf. Und der in dieser Woche veröffentlichte Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD lässt einen Aufbruch vermissen. Hin und wieder mal ein Halbsatz mit dem Schlagwort Inklusion (z. B. in der Schule und beim Sport), manchmal mehr ein Lippenbekenntnis statt konkreter Projekte. Kein optimistisches Ja zu Inklusion und wirklicher Teilhabe, kein Zukunftsprojekt. Es überwiegt Kleinteiligkeit, Zögerlichkeit.

Statt zum Beispiel endlich eine jahrzehntealte Forderung der Menschen mit Behinderung verbindlich aufzugreifen und die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten, gibt es wieder nur einen Prüfauftrag: „Im Rahmen der Weiterentwicklung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) werden wir prüfen, wie Private, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, angemessene Vorkehrungen umsetzen können.“ Ich frage mich, was gibt es da denn zu prüfen? Andere Länder zeigen seit vielen Jahren, dass das möglich ist. Ideen der Behindertenverbände für die konkrete Umsetzung hierzulande liegen ebenfalls seit Jahren auf dem Tisch. Es ist offensichtlich, dass eine weitere Prüfung nicht nötig ist, sondern dass das Thema wieder einmal vertagt werden soll. Wir Menschen mit Behinderung sind die Leidtragenden. Wir können auch in den kommenden Jahren nicht erwarten, dass Restaurants eine Rampe bekommen, dass Websites barrierefrei werden oder im Privatfernsehen Filme mit Audiodeskription laufen.

Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Doch statt konstruktiv darüber zu diskutieren, wie Inklusion an Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt gelingen kann, werden in der öffentlichen Debatte derzeit Forderungen nach einer Pause bei der Inklusion aufgestellt. Eine Pause für ein Menschenrecht? Das ist absurd, und doch stimmt die Bundeskanzlerin dieser Absurdität zu. Statt eine Vision zu entwickeln, wie Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt endlich gelingen kann, findet sich im Koalitionsvertrag u. A. der verräterische Satz: „Wir wollen die Werkstätten für behinderte Menschen unterstützen, ihr Profil entsprechend neuer Anforderungen weiterzuentwickeln und dem Wunsch der Menschen mit Behinderungen nach Selbstbestimmung Rechnung zu tragen.“ Geht es hier wirklich um einen „Wunsch der Menschen mit Behinderung“? Würde die Politik dieses Landes die Behindertenrechtskonvention endlich ernst nehmen, dann wäre hier von einem „Recht auf Selbstbestimmung“ die Rede. Ob dieses Recht mit der Förderung von Sondereinrichtungen wie Werkstätten gesichert werden kann, kann zumindest kritisch hinterfragt werden. Und was ist mit den Menschen mit Behinderung, die nach einem Job auf dem ersten Arbeitsmarkt suchen? „Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit werden wir die Ursachen der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen genau analysieren und passgenaue Unterstützungsangebote entwickeln.“ Vielleicht sollte die Bundesregierung die Ursachen lieber mal zusammen mit den Menschen mit Behinderung und nicht nur mit der Arbeitsagentur analysieren. Denn oft genug trägt die Arbeitsagentur selbst eine Mitverantwortung, z. B. wenn sie notwendige Hilfsmittel für den Arbeitsplatz nicht oder viel zu spät bewilligt.

Es bleibt zu befürchten, dass – sofern die SPD-Basis dem Vertrag zustimmt – es in Deutschland beim Gewurschtel in der Behindertenpolitik bleibt, dass ein wirklich emanzipatorisches Verständnis von Selbstbestimmung und Teilhabe auch in den kommenden knapp vier Jahren zumindest in der Politik der Bundesregierung keinen Widerhall finden wird. Es wird auch in Zukunft Aufgabe der Selbsthilfe-Organisationen sein, für die Umsetzung der UN-BRK, für Inklusion und Barrierefreiheit, für den Wandel vom medizinischen zum sozialen Behinderungsbegriff zu streiten. Auf die große Koalition jedenfalls können wir uns nicht verlassen.

Abilitywatch hat die behindertenpolitischen Passagen aus dem Koalitionsvertrag zusammengestellt. Ihr findet das Ergebnis auf abilitywatch.de.

Umstrittene Personalie: Blinde Bentele soll Behindertenbeauftragte werden

Es ist die behindertenpolitische Topmeldung dieser Woche: Verena Bentele soll Behindertenbeauftragte der Bundesregierung werden. Die blinde Biathletin und Ski-Langläuferin wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch ihre großen Erfolge bei den Paralympics bekannt. Insgesamt kann sie zwölf Paralympics-Gold-Medaillen ihr Eigen nennen. Nach ihrem Karriereende als Sportlerin 2011 arbeitete sie als freiberufliche Referentin im Bereich Personaltraining. 2012 trat sie der SPD bei. Bentele war Mitglied der Bundesversammlung, die Bundespräsident Joachim Gauck wählte. Im Oktober 2012 engagierte sie sich im Team des SPD-Kandidaten Christian Ude als Expertin für Sport und Behinderte beim Landtagswahlkampf in Bayern.

Die neue Bundessozialministerin Andrea Nahles hatte ihre Partei-Genossin Bentele für das Amt der Behindertenbeauftragten vorgeschlagen. Am Mittwoch wird das Kabinett über die Personalie entscheiden. Die 31jährige Bentele würde auf Hubert Hüppe (CDU) folgen.

Die Reaktionen auf diese durchaus überraschende Nominierung fallen unterschiedlich aus. Viele SPD-Politikerinnen und –Politiker äußern sich auf Twitter positiv:

Auch die Christoffel-Blindenmission und der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband begrüßten die Personalentscheidung. In der Frankfurter Rundschau zeigt sich der Journalist Arne Leyenberg geradezu euphorisch. Er schreibt:

Bentele aber hat schon vor Amtsantritt viel für die öffentliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung getan. Mit dem Gewinn von gleich fünf Goldmedaillen bei den Paralympischen Spielen von Vancouver wurde sie als erste Behindertensportlerin überhaupt einem breiteren Publikum bekannt. (…)Die Grenzen, die ihr der Körper setzt, hat sie nie akzeptiert. Sie hat sie erst ausgereizt und dann verschoben. Wer sich im blinden Vertrauen auf seinen Begleitläufer auf die Skipiste wagt, wer sich mit dem Mountainbike Abfahrten hinunterstürzt, wer im Kilimandscharo den höchsten Berg Afrikas besteigt, wer in 23 Stunden einen Fahrradmarathon durch Norwegen absolviert und nebenbei ein wenig Bunjee-Jumping und Fassadenlaufen betreibt, der ignoriert seine Einschränkungen einfach.

Warum es positiv sein soll, wenn ein Mensch mit Behinderung seine vermeintlichen Einschränkungen ignoriert, lasse ich an dieser Stelle einmal unkommentiert, obwohl das Behinderten-Bild, das hinter diesen Formulierungen steht, durchaus einen eigenen Artikel wert wäre.

Kommen wir aber noch einmal auf die Reaktionen auf Benteles Nominierung zurück. Diese fallen nämlich keineswegs nur positiv aus. Insbesondere die Tatsache, dass sie als Quereinsteigerin über keinerlei politische Erfahrung verfüge wird im Netz kritisiert. Auch habe sie sich bisher nicht für Barrierefreiheit eingesetzt:

Ich kann diese Kritik nur schwer nachvollziehen. Zum einen kann man sich zwar wünschen, dass Leistungssportlerinnen mit Behinderung ihre Popularität dafür nutzen, sich für Barrierefreiheit und Inklusion stark zu machen, ihre originäre Funktion ist dies aber nicht. Ebenso müssten man Profi-Fußballern mit Migrationshintergrund einen Vorwurf daraus machen, wenn sie sich nicht bei jeder Gelegenheit gegen Rassismus aussprechen. Und auch Benteles fehlende Erfahrung im Politik-Betrieb muss kein Hindernis sein. Im Gegenteil: hieraus könnte sich sogar mehr Unabhängigkeit ergeben. Es gab früher eine hunderttägige Schonfrist für Politiker, die ein neues Amt antraten. Der Politiker sollte eine Chance haben, sich in seine neuen Aufgaben einzuarbeiten, sich mit den bestehenden Strukturen vertraut zu machen. Leider ist dies heute wohl in Vergessenheit geraten. Stattdessen wird schon vor der offiziellen Berufung Benteles fleißig drauflosgepöbelt – Empörung statt sachlicher Beobachtung. Dabei wird vergessen, dass sich Menschen in neuen Positionen auch entwickeln können. Ich jedenfalls finde es zunächst ein positives Signal, dass erstmals ein Mensch mit Behinderung den Posten der Behindertenbeauftragten übernimmt. Selbstverständlich ist das vor allem Symbolik, deren Bedeutung aber nicht unterschätzt werden sollte.

Und was sagt Bentele selbst zu ihrer Nominierung? Auf ihrer Website heißt es wenig konkret:

Die aufregendsten Herausforderungen kommen immer dann, wenn man sie gar nicht erwartet. Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, hat mich kürzlich angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung zu werden. Nach einer kurzen Bedenkzeit, die ich bei einer so großen Aufgabe für völlig normal halte, habe ich zugesagt. Ich möchte mich ausdrücklich für das Vertrauen bedanken, das da in mich gesetzt wird. Zu Details meiner Arbeit kann und möchte ich derzeit noch nichts sagen, da erst in der kommenden Woche im Bundeskabinett über meinen neuen Posten beraten wird. Sollte es so kommen wie geplant, freue ich mich sehr auf diese neue Aufgabe und die Möglichkeit, mich als Behinderte für Behinderte einzusetzen. Ich freue mich schon jetzt auf ein spannendes Jahr 2014. Es wird definitiv kein Jahr zum Ausruhen. Aber das macht mir gar nichts – ich freue mich auf meine neuen Herausforderungen. Voriges Jahr habe ich den Gipfel des Kilimandscharo bezwungen, nun möchte ich mir Berlin genauer ansehen.

Ich wünsche Verena Bentele viel Erfolg in ihrem neuen Amt und hoffe, dass es ihr gelingt, sich für die Interessen aller Menschen mit Behinderung stark zu machen. Ich bin gespannt.

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