Protest blinder und sehbehinderter Menschen: 7 Argumente gegen das Bundesteilhabegesetz

Am gestrigen Montag, 7. November 2016, demonstrierten mehrere Tausend Menschen mit Behinderung in Berlin gegen das Bundesteilhabegesetz. Anlass war die öffentliche Expertenanhörung des Bundestags. Allein zu der Protestkundgebung des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes kamen rund 300 Betroffene.

Bereits im September hatten blinde und sehbehinderte Menschen für Schlagzeilen gesorgt. Unter dem Motto „Blinde gehen baden“ waren ca. 30 Aktivisten vorm Reichstag in die Spree gesprungen.

Doch wogegen richtet sich der Protest?

  1. Gegen die Ausgrenzung sinnesbehinderter Menschen: Zur gestrigen Expertenanhörung des Bundestags waren blinde, sehbehinderte, gehörlose und schwerhörige Menschen und ihre Organisationen gar nicht erst eingeladen. Das ist sinnbildlich für das Teilhabegesetz. Entweder wurden wir ganz vergessen, oder wir werden von der Politik gezielt gegen körperbehinderte Menschen ausgespielt.
  2. Gegen einen Nachteilsausgleich zweiter Klasse: Im Gesetz gibt es Verbesserungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei der Eingliederungshilfe. Diese Verbesserungen reichen bei Weitem nicht aus. Aber selbst diese kleinen Schritte in die richtige Richtung werden blinden Menschen vorenthalten. Die wichtigsten Nachteilsausgleiche – das Blindengeld und die Blindenhilfe – behandelt das Bundesteilhabegesetz einfach nicht.
  3. Gegen den Ausschluss sehbehinderter Menschen: Sehbehinderte Menschen (also Menschen die zwischen 2 und 30% Sehvermögen auf dem besseren Auge haben) haben bisher einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe-Leistungen, zum Beispiel wenn sie für ein Studium behinderungsbedingt besondere, zum Teil sehr teure Hilfsmittel benötigen. Dieser Anspruch entfällt im Teilhabegesetz komplett und wird durch eine willkürliche Regel ersetzt, wonach man nur Zugangsanspruch hat, wenn man in mindestens fünf von neun Lebensbereichen dauerhaften personellen oder technischen Unterstützungsbedarf nachweist.
  4. Gegen Diskriminierung bei der Bildung: Das Gesetz wird den Anforderungen an heutige Bildungs- und Berufsverläufe in keiner Weise gerecht. Unterstützende Leistungen für Hilfsmittel und Assistenz gibt es nur, wenn es zwischen den einzelnen Bildungsetappen einen engen zeitlichen und einen inhaltlichen Zusammenhang gibt. Lebenslanges Lernen und berufliche Umorientierung werden für blinde und sehbehinderte Menschen somit unmöglich.
  5. Gegen den Ausschluss aus der unabhängigen Beratung: Ein richtiger Schritt, den das Teilhabegesetz vorsieht, ist die Finanzierung einer unabhängigen Beratung für Menschen mit Behinderung. Der Haken: Diese berücksichtigt vergleichsweise kleine Gruppen von behinderten Menschen nicht. Z.B. taubblinde Menschen sind auf fachkundige Beratung angewiesen, die ihrer besonderen Behinderung gerecht wird. Solche dezentralen Beratungsangebote sind im Gesetz nicht vorgesehen.
  6. Gegen eine Aufweichung des Begriffs der Taubblindheit: Lange Zeit haben die 2.000 bis 6.000 Betroffenen für ein eigenes Merkzeichen TBL im Schwerbehindertenausweis gestritten. Die Einführung wäre ein Zeichen dafür, dass Taubblindheit endlich als Behinderung eigener Art anerkannt und nicht nur als Summe von Blindheit und Gehörlosigkeit verstanden wird. Während die Bundesregierung das Merkzeichen TBL endlich ins Teilhabegesetz aufnehmen will, will aber nun der Bundesrat aus unerfindlichen Gründen das Merkzeichen umbenennen, in aHS = außergewöhnlich hörsehbehindert.
  7. Gegen Diskriminierung im Alter: Im aktuellen Gesetzgebungsprozess wird überlegt, wie man die Leistungen der Eingliederungshilfe und die Leistungen der Hilfe zur Pflege voneinander abgrenzt. Hierbei gibt es Überlegungen sie ans Alter zu koppeln (bis zur Rente Eingliederungshilfe mit höheren Grenzen bei Einkommen und Vermögen, danach Pflegeleistungen, für die die bisherigen strengen Einkommens- und Vermögensgrenzen der Sozialhilfe gelten). Altersarmut ist vorprogrammiert, und womöglich gibt es keinen Zugang mehr zu Hilfsmitteln für Senioren. Das Menschenrecht auf Teilhabe scheint für alte Menschen nicht zu gelten. Der Begriff „Bundesteilhabegesetz“ ist eine Farce.

Bürgerschaftswahl 2015: Hamburgs Parteien über Nachteilsausgleiche und Blindengeld

Die Parteien haben geantwortet. Wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) hatten ihnen zehn Fragen gestellt. Hier ihre Kernaussagen zum Thema Nachteilsausgleiche und Blindengeld:

SPD: Die Fortentwicklung der Eingliederungshilfe geschieht unter den Gesichtspunkten Personenzentrierung und Selbstbestimmung. Menschen mit Behinderung sollen in jeder Situation über ihre Belange möglichst eigenständig und autonom entscheiden können. Das Bundesleistungsgesetz wird derzeit auf Bundesebene erarbeitet. Hamburg hat sich bereits im Bundesrat dazu sehr engagiert eingebracht und ist an der Ausarbeitung des Gesetzes prominent beteiligt. Im Rahmen der Gesetzgebung wird auch die Entwicklung eines Bundesteilhabegeldes zu beraten sein. Bis dahin beabsichtigen wir keine Änderung beim Hamburger Nachteilsausgleich vorzunehmen.

CDU: Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist das Blindengeld in Hamburg überdurchschnittlich hoch. Veränderungen der Regelungen zum Blindengeld sind nicht geplant. Wir unterstützen nachdrücklich die Einführung eines Bundesteilhabegesetzes, mit dem die Leistungen der Eingliederungshilfe aus dem System der „Fürsorge“ herausgelöst und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt werden sollen. Ziel ist eine Leistung, die sich am persönlichen Bedarf orientiert, unabhängig von Institutionen oder vom Wohnort der Betroffenen. Dabei sollen auch die bisherigen Vermögens- und Einkommensgrenzen überprüft werden.

BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN: Das Landesblindengeld wollen wir für blinde und stark sehbehinderte Menschen erhalten. Allerdings setzen wir uns dafür ein, dass ein bundesweites einheitliches Teilhabegeld als Nachteilsausgleich eingeführt wird. Das grüne Teilhabegeld ist gestaffelt nach Grad der Teilhabeeinschränkung und soll (mit Ausnahme von anfallenden Heimkosten) nicht auf Leistungen der Eingliederungshilfe angerechnet werden und unabhängig von Einkommen und Vermögen gezahlt werden. Taubblinde sollen ebenfalls von dem Teilhabegeld profitieren.

FDP: Die FDP bekennt sich zum Erhalt des Blindengeldes in Hamburg. Für den Nachteilsausgleich von Menschen mit Behinderungen setzt sich die FDP grundsätzlich für eine stärkere Nutzung und Verbreitung des persönlichen Budgets ein, da Leistungen zum Nachteilsausgleich individuell an den jeweiligen Empfänger angepasst werden können und damit die persönlichen Lebensumstände jedes einzelnen besser berücksichtigt werden können, als bei der pauschalen Auszahlung eines Festbetrages. Die FDP zieht daher die Nutzung des persönlichen Budgets der Einführung weiterer Kategorien, wie Taubblindengeld oder Sehbehindertengeld, vor.

DIE LINKE: Die LINKE setzt sich seit Jahren dafür ein, dass das Bundesleistungsgesetz geändert wird. Die Leistungen der Eingliederungshilfe sollen unabhängig von den Einkommens-und Vermögensverhältnissen der Menschen mit Behinderung und ihrer Familien erbracht werden. Ein ergänzender Ausgleichsbeitrag soll dazu dienen, behinderungsbedingte, in der Leistungsbemessung der Eingliederungshilfe nicht weiter spezifizierte Bedarfe zu decken. Die LINKE wird sich in der nächsten Legislatur für eine gesetzliche Regelung einsetzen, damit stark sehbehinderte, taubblinde Menschen einen Nachteilsausgleich erhalten.

Im vorigen Blog-Post habe ich die Antworten zum Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zusammengefasst. Alle Fragen und Antworten finden Sie vollständig auf der Wahl-Sonderseite des BSVH.

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