Journalismus inklusiv: Freundliche Übernahme bei der taz

Menschen mit Behinderung sind im deutschen Journalismus unterrepräsentiert. Umso erfreulicher ist die Aktion der Tageszeitung taz, die am 2. Dezember 2016 eine komplette Ausgabe von Autorinnen und Autoren mit Behinderung schreiben ließ. Behinderte Fotografen lieferten das Bildmaterial. Die „freundliche Übernahme“ fand anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung statt und ist für den hiesigen Journalismus ein bedeutsames Signal für mehr Teilhabe auch am Medienbetrieb. Hoffentlich wird es zukünftig selbstverständlicher, dass Menschen mit Behinderung In Redaktionen und als freie Journalisten tätig sind – und das nicht nur als Autoren fürs Thema Behinderung.

Ich selbst durfte zur taz.mit Behinderung fünf Artikel beitragen: Sie befassten sich mit der Auswirkung einer Sehbehinderung auf die Angehörigen der Betroffenen, mit der mangelhaften Versorgung mit Blindenschriftbüchern, mit dem Fehlen von Barrierefreiheit im Web, mit Barrieren in Arztpraxen und mit ungewollten Berührungen im Alltag.

Herzlichen Dank an Leidmedien.de und die taz für dieses großartige Projekt!

Blinde können sehen, wenn man sie lässt: Hörenswertes Feature aus den USA

Mit der Berichterstattung über Blindheit ist das so eine Sache. Sie schwankt meist irgendwo zwischen Überhöhung und Mitleid. Häufig steht die Behinderung als rein medizinisches Phänomen im Mittelpunkt, nicht der Mensch, nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ausführlich habe ich hierüber bei Leidmedien.de geschrieben. Dass es auch anders geht, zeigt ein ganz hervorragendes Feature aus den USA. In der Senderreihe Invisibilia lief bereits im Januar eine Folge mit dem Titel „How To Become Batman“.

OK, der Titel klingt noch nicht sonderlich originell, der Inhalt und die Form der Sendung sind es aber allemal. In der Ankündigung zur Sendung heißt es:

Alix and Lulu examine the surprising effect our expectations can have on the people around us. Plus, the story of a blind man who says expectations have helped him see. Yes, see.

Im Zentrum steht Daniel Kish, der sich als blinder Mensch mit Hilfe von Klick-Lauten orientiert, Seine Umgebung erkundet, Fahrrad fährt. Das Feature zeigt, welch großen Einfluss die Erziehung auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten hatte. Kish hatte das Glück, dass er sich als Kind allein und frei bewegen durfte, in Bäumen klettern, die Nachbarschaft erkunden durfte. Vielen blinden Kindern bleibt dies verwehrt, weil Eltern ängstlich sind, sie es ihren Kindern nicht zutrauen.

Ich selbst erinnere mich an Kinder, die mit zehn Jahren zu uns ins Internat für Blinde und Sehbehinderte kamen und die sich nicht einmal in geschlossenen Räumen eigenständig bewegen konnten, weil sie während ihrer gesamten Kindheit an der Hand der Eltern gegangen waren. Das sind zwar Extrembeispiele, dennoch: Behinderung ist nicht primär biologisch, sie ist ein gesellschaftliches Phänomen. Erwartungen unserer Eltern, unserer Mitmenschen prägen uns und unsere Fähigkeiten. Blinde Menschen können sehen – das sagt inzwischen sogar die Hirnforschung -, wenn man uns lässt.

Das NPR-Feature macht dies journalistisch hoch professionell und sehr unterhaltsam zum Thema. Warum hört man Vergleichbares eigentlich nie im Deutschen Radio? Dabei tappen die Macher nicht in die Falle, den Weg Daniel Kishs als alleinseligmachend zu verkaufen. Es wird auch die Frage gestellt, ob es nicht beinahe gewalttätig gegenüber blinden Kindern ist, wenn man von ihnen verlangt, dass sie so sein müssen wie sehende Kinder. Es kommt nicht nur Kish als Maßstab aller Dinge zu Wort, sondern auch andere blinde Menschen und Vertreter von Blinden-Organisationen. Großartig!

Das Feature kann auf npr.org nachgehört werden. Nehmen Sie sich die Stunde Zeit, und vielleicht denken Sie danach anders über Blindheit, Behinderung, den Menschen, die Welt.

Lieben Dank an Tina und Toby, die mich auf den Podcast aufmerksam gemacht haben!

Der Social-Media-Arzt: „Zusammen auf dem richtigen Weg“

Dr. Johannes Wimmer ist Arzt und im Social Web aktiv. Im Interview mit mir gibt er Tipps zur Arztsuche, spricht über Chancen und Risiken von Diagnosen via Google und über seine Online-Projekte.

Porträt-Foto von Dr. Johannes
Dr. Johannes

Heiko: Immer wieder werden wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg von Augenpatienten gefragt: „Wie finde ich einen sehr guten Augenarzt?“ Wie lautet Deine Antwort?

Dr. Johannes: Jeder Mensch hat unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein sehr guter Arzt ist. Während die meisten Ärzte in Deutschland technisch und medizinisch auf einem hohen Niveau arbeiten, gibt es bei der Kommunikation große Unterschiede. Das liegt wohl auch daran, dass einige Menschen miteinander besser auskommen und andere nicht. Um einen guten Arzt zu finden lohnt es sich, mehrere, aber nicht zu viele Empfehlungen einzuholen. Danach sollte man zu zwei bis drei Ärzten gehen und diese ausprobieren. Am besten wählt man für diesen Probetermin einen Zeitraum, in dem es einem gut geht und man nicht in größter Not ist. So kann man in Ruhe erleben, ob die Chemie nicht nur mit dem Arzt, sondern mit dem gesamten Praxisteam stimmt. Manchmal kann sich aber auch ein Patienten-Arztverhältnis, welches zu Beginn gut war, über die Zeit verschlechtern. Dann sollte man sich trauen, auch einmal einen neuen Arzt auszuprobieren.

Heiko: Krankheiten googeln ist fast schon ein Volkssport – Symptome in die Suchmaschine eingeben, und fertig ist die Diagnose. Ist das Internet aus Mediziner Sicht Fluch oder Segen?

Dr. Johannes: Der Segen des Internets ist die unglaubliche Fülle an Informationen, der Fluch der Onlinemedizin ist die Orientierungslosigkeit. Die Masse an Inhalten der Webseiten kann den Benutzer erschlagen und auf die falsche Spur führen. Die Situation ist für Ärzte und Patienten schwierig, da in kurzer Zeit alle Informationen, die veraltet oder falsch sind, diskutiert werden müssen. Ein weiteres Problem ist, dass im Netz vor allem die schlimmsten Krankheiten und Diagnosen besonders stark vertreten sind. Wenn man abends im Internet nach einer medizinischen Antwort sucht, kann es passieren, dass man die nächsten Nächte nicht mehr schlafen kann und Todesängste durchstehen muss, weil das Internet Horrorszenarien geliefert hat. Ein absoluter Segen des Internets sind die sozialen Medien. Früher war es teilweise sehr schwer, Selbsthilfegruppen zu finden oder in Foren aufgenommen zu werden. Heute ist es leichter geworden, jemanden zu finden, der nicht nur das gleiche Problem hat, sondern sich sogar zum gleichen Zeitpunkt auf der Patientenreise befindet. Das heißt der andere User hat z.B. ebenfalls erst seit ein paar Tagen von einer Krankheit durch seine Ärzte erfahren. Twitter, Facebook, Google+ und die anderen Netzwerke bieten somit vielen Menschen emotionalen Halt und Sicherheit.

Heiko: Ärzte sind im Social Web immer noch eine Seltenheit. Warum hast Du ein Blog und eine Facebook-Seite gestartet und einen Twitter-Account eingerichtet?

Dr. Johannes: Ich wundere mich immer wieder, dass so wenige Ärzte in den sozialen Medien sind. Ich habe eine Vision, Menschen bereits während der Suche bei Dr. Google und auf dem Weg zum Arzt zu unterstützen. Über Twitter und Facebook kann ich schon mit kleinen Tipps und Tricks, den richtigen Fragen und Informationen meinen Followern helfen, für sich die beste Medizin zu bekommen. Das Feedback und die tollen Kommentare, die ich bekomme, sobald meine Videos online sind, zeigen mir, dass wir zusammen auf dem richtigen Weg sind!

Heiko: Wer steht hinter Doktor-johannes.de und was plant Ihr für die Zukunft?

Dr. Johannes: Dr. Johannes bin ich als echte Person. Ich habe nach einigen Jahren in der Medizin den Wunsch gehabt, die andere Seite des Gesundheitssystems kennenzulernen und bin in eine sehr große Werbeagentur gegangen. Dort durfte ich lernen, was die großen und kleineren Medikamentenhersteller und alle anderen Akteure im Gesundheitssystem machen und in Zukunft machen wollen. Die Arbeit war spannend, aber viel zu weit weg von den Menschen um die es geht. Ich habe nun für mich die perfekte Situation gefunden. Ich arbeite als Arzt in der Chirurgie in einem Krankenhaus in Hamburg mit einer halben Stelle und kann mit der anderen halben Stelle den Videoblog und meine Vision aufbauen. Ein Hamburger Verlag unterstützt mich dabei. Der Verlag Dumrath und Fassnacht ist nicht nur von der Idee des Blogs überzeugt, sondern auch von meiner Vision, dass Menschen bereits online den Grundstein für die beste Medizin legen können. Momentan drehe ich die Videos selbst, bearbeite Sie und stelle sie ins Netz. Die Mitarbeiter aus dem Verlag haben mir eine tolle Seite programmiert und sorgen dafür, dass die Videos online sind.

Heiko: Was gibt Dir die Arbeit im Social Web?

Dr. Johannes: Ich bin unglaublich dankbar für die Möglichkeit, Menschen wie Dich und die anderen Blogger, Follower und in den sozialen Netzwerken aktiven Menschen kennenzulernen. Das Gesundheitssystem in Deutschland wird sich verändern, wenn die Menschen, die es brauchen die Änderung gestalten. Zu sehen, wie dies online geschieht und wie Menschen mit schwersten Erkrankungen, deren Stimmen vorher nie gehört worden wären, heute zu den online Meinungsbildnern gehören, fasziniert mich.

Zur Person:

Dr. Johannes Wimmer (30) ist Hamburger Jung. Nachdem er in der ganzen Welt auf der Suche nach der besten Medizin war, ist er wieder in Hamburg angekommen. Medizin ist für ihn die Möglichkeit, jeden Tag menschlich zu wachsen. Den Antrieb, ständig weiterzumachen und immer die beste Leistung, menschlich und handwerklich, zubringen, hat er seiner Mutter zu verdanken. Seine Kraft schöpft er aus der Zeit mit seiner Familie und seinen beiden Dackeln.

DBSV-Verbandstag: Signale für Barrierefreiheit und ein gerechtes Blindengeld

In der vergangenen Woche fand in Berlin der Verbandstag des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) statt. Er ist das höchste Gremium des Verbandes. Rund 200 Delegierte kommen alle vier Jahre zusammen, legen die Grundlagen für die Verbandsarbeit fest und wählen das neunköpfige Präsidium.

Über die unbefriedigende Lage beim Blindengeld habe ich in diesem Blog bereits häufig geschrieben, zuletzt über das Beispiel Schleswig-Holstein. Hier positionierte sich der Verbandstag eindeutig in einer Resolution. Hierin wird ein bundesweit einheitliches einkommensunabhängiges Blindengeld gefordert, das den wirklichen finanziellen Mehrbedarf der Betroffenen abdeckt. Außerdem wird eine entsprechende Leistung auch für sehbehinderte Menschen gefordert – diese gibt es bisher nur in sechs Bundesländern.

Mit der DBSV-Ehrenmedaille wurde der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz geehrt. Der Sozialdemokrat Kurt Beck hatte sich immer wieder für mehr Barrierefreiheit und mehr Hörfilme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stark gemacht.

Mehr Barrierefreiheit verspricht auch das Projekt „Patienteninfo-Service“, das auf dem DBSV-Verbandstag vorgestellt wurde. Hierbei handelt es sich um eine Homepage, auf der Beipackzettel von Medikamenten für sehbehinderte und blinde Menschen, aber natürlich auch für jeden Internetnutzer, zugänglich gemacht werden. Das ist ein großer Fortschritt zu den kleingedruckten unübersichtlichen Zettelchen in den Medikamenten-Packungen. Endlich stehen diese wichtigen, oft lebenswichtigen Informationen sehbehinderten und blinden Menschen zur Verfügung. Bleibt nur zu hoffen, dass alle Pharma-Unternehmen ihre Beipackzettel dem Webangebot zur Verfügung stellen und dass ein Weg gefunden wird, auch den Betroffenen ohne Internet die Beipackzettel zugänglich zu machen.

Schließlich für die Szene-Kenner noch einige Namen: In den Wahlen wurden Präsidentin Renate Reymann aus Mecklenburg-Vorpommern und Vizepräsident Hans-Werner Lange aus Niedersachsen mit jeweils 89% der Delegierten-Stimmen im Amt bestätigt. Neu in dem neunköpfigen Gremium sind Angela Fischer und Peter Brass. Im Amt bestätigt wurden Klaus Hahn, Dr. Thomas Kahlisch, Hans-Joachim Krahl, Helga Neumann und Rudi Ullrich.

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