Menschen möchten einander gefallen. Sie verwenden viel Zeit damit, an ihrer Schönheit zu feilen: Haare stylen, schminken, passende Kleidung auswählen. Welchen Stellenwert hat Schönheit, wenn man erblindet oder blind ist? Die psychotherapeutische Heilpraktikerin Heike Herrmann hat sich dieser Frage gewidmet. In der Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Band „Blinde Schönheit“ schreibt sie:
Ich habe es innerhalb meiner persönlichen Auseinandersetzung mit meiner fortschreitenden Sehbehinderung und der langen Beschäftigung mit der Thematik der Benutzung des weißen Langstockes erlebt und mit vielen Betroffenen in Briefen, Mails und Telefonaten sowie in Gesprächen mitdurchlebt, wie tiefgreifend es eine Frau in ihrer persönlichen Identifizierung als Frau, als attraktive Frau, was immer dies für die Einzelne bedeuten mag, berührt, auseinander nimmt, durchwirbelt, wenn sie an der Stelle steht, sich als hochgradig sehbehinderte Frau mit dieser Behinderung outen zu müssen. Das Gefühl, dann keine anziehende, schöne Frau mehr zu sein, hindert sehr viele Frauen daran, diesen Schritt des Outens, des selbstständig und eigenständig lebens als Frau mit einer Behinderung zu gehen. Sie verzichten darauf, dieses doch geniale Hilfsmittel, den Langstock zu benutzen, der ja blinde Menschen erst in die Lage versetzt, ein völlig eigenständiges, mobiles und souveränes Leben zu führen und machen sich abhängig von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn, die Besorgungen für sie oder zusammen mit ihnen erledigen. Allein um diesen Schritt des Outens nicht gehen und sich als blinde Frau nicht zeigen zu müssen. Für diese Frauen und all diejenigen, die von Kindheit an sehbehindert sind und durch ihre Familie und Schule das Gefühl vermittelt bekamen, Behinderung und Schönheit, Attraktivität, weibliche Strahlkraft, Erotik passen nicht zusammen und sollen eigentlich auch nicht zusammen passen, habe ich die Idee zu dem Thema „Mut zur Schönheit“ entwickelt.
Aus dieser Idee entstand das Buch „Blinde Schönheit“. In der vergangenen Woche war Herrmann zugast in der Flussschifferkirche. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hatte sie zu einer Lesung mit anschließender Diskussion in das schwimmende Gotteshaus in der Hafencity eingeladen. Neben ihr waren zwei weitere Autorinnen von „Blinde Schönheit“ dabei: Heidrun Köllner und Ruth Wunsch. Letztere greift in ihrem Blog eine Meinung auf, die sie mit Heike Herrmann teile:
Zum Beispiel sind wir beide der Überzeugung, dass ein blinder Partner unser Leben vereinfacht. Einem Sehenden mag das paradox vorkommen. Ist es nicht viel leichter, wenn wenigstens einer der beiden Partner sehen kann? Vordergründig vielleicht. In Wirklichkeit ist es anstrengender, denn die blinde Frau fühlt sich unter ständiger Beobachtung. Mache ich auch alles richtig? Was denkt er jetzt wieder von mir? Wie schaut er mich an? Mit einem blinden Partner hingegen lebt man in einer Art Schonraum.
Ich stimme längst nicht in allen Punkten mit den Meinungen in „Blinde Schönheit“ überein. Es sind bewusst subjektive Texte. Aber gerade diese Subjektivität, die Authentizität macht die Erfahrungsberichte, Prosa und Lyrik in dem Hörbuch lesenswert und anregend. Und das gilt nicht nur für betroffene Zuhörer. Nichtbehinderte Menschen bringt manch ein Text gewiss ebenfalls zum Nachdenken, über den Schönheitsbegriff in einer visuellen Gesellschaft, in der Schönheit und Behinderung immer noch viel zu häufig unvereinbar erscheinen.
Text- und Hörproben finden Sie auf der Homepage von Heike Herrmann.
„BLINDE-SCHÖNHEIT“ – AUTHENTISCHE TEXTE UND FOTOS VON BLINDEN FRAUEN, Kaufhörbuch Daisy (16,95€) und Audio Version (19,95€), Eigenverlag Heike Herrmann & Ulrich Hofstetter (Hrsg.), Marburg an der Lahn 2009, ISBN 978-3-00-028653-7