Umgang mit blinden Menschen: Fasst uns nicht an!

Gestern war wieder so ein Tag: Beim Einsteigen in die U-Bahn, vor der Bahnhofstreppe und an einer Ampel. Dreimal wurde ich angefasst, von wildfremden Menschen, ohne meine Zustimmung, einfach nur weil ich blind bin.

Am Bahnsteig. Die U-Bahn fährt ein. Ich stehe zwischen zwei Türen. Ich steuere nicht sofort auf die sich öffnende Tür zu, sondern muss erst erlauschen, ob rechts oder links der nächste Eingang in den Wagon ist. Diese Geduld hat der junge, männliche Mitbürger nicht. Er greift grob nach meinem Arm, zerrt mich nach rechts. Ich erschrecke mich, zieh den Arm weg.

Nach der Bahnfahrt. Ich gehe zügig auf die abwärts führende Treppe zu. Vor mir pendelt der weiße Stock hin und her. Ich gehe diesen Weg jeden Werktag, seit über neun Jahren. Ich weiß genau wann es hinunter geht. Und selbst wenn ich es nicht wüsste, würde ich es mit dem Stock rechtzeitig ertasten. Dennoch fasst mir ein beherzter Senior an die Schulter. Er hat wohl Angst, ich könnte gleich die Treppe hinunterstürzen. Dabei ist es sein Eingreifen, das die Situation erst gefährlich macht. Ich bin im Gehfluss, im Gleichgewicht. Werde ich ohne Vorwarnung herausgerissen, steigt die Gefahr zu stolpern enorm.

Abends auf dem Weg zum Ampelpfosten. Ich steuere ihn gezielt an. Ein Knackgeräusch signalisiert mir seinen Standort. Ich muss an ihm einen etwas versteckten Knopf drücken, um das Akustiksignal zu aktivieren, das bei der nächsten Grünphase ertönt. Doch soweit komme ich gar nicht. Diesmal ist es eine Frau in mittleren Jahren, die mit einem resoluten „Es ist rot!“ und einem Greifen nach meiner Hand mein Vorhaben unterbindet.

Ich frage mich ernsthaft: Sehen diese vermeintlichen Helferinnen und Helfer eigentlich ständig blinde Menschen Treppen runterpurzeln, auf stark befahrenen Hauptstraßen herumirren oder unter U-Bahn-Wagen geraten? Meinen diese Leute denn, dass wir allein mit unseren Stöcken durch die Großstadt laufen würden, wenn das an jeder Kreuzung Lebensgefahr bedeuten würde? Sagt ihnen der gesunde Menschenverstand nicht, dass man seine Mitmenschen nicht ungefragt berührt? Ist der Gedanke für sie so abwegig, dass die persönliche Distanzzone auch für Menschen mit Behinderung einen Meter beträgt?

Gut, dass mir das dreimal an einem Tag passiert, ist die Ausnahme. Aber dreimal in der Woche passiert es mindestens. Dabei finde ich es absolut in Ordnung und freundlich, wenn ich von sehenden Mitbürgern gefragt werde, ob ich Hilfe benötige. Manchmal benötige ich sie sogar – und dann ist die Berührung auch OK. Aber allen anderen, die ständig ungefragt an, ihnen vollkommen fremden, blinden Menschen herumreißen, zerren, zupfen, sie tätscheln, ihnen eine körperliche Nähe aufdrängen, die sie nicht wollen, rufe ich zu: „Fasst uns nicht an!“

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (44) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorstandsmitglied der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Stiftung Centralbibliothek für Blinde, der Norddeutschen Blindenhörbücherei und der Erich-Quenzel-Stiftung, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist freier Journalist und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

9 Kommentare zu „Umgang mit blinden Menschen: Fasst uns nicht an!“

  1. Um diese Grenzverletzung zu vermeiden, frage ich, wenn ich meine, der Mensch mit Sehbehinderung könnte Hilfe gebrauchen: „Darf ich Ihnen helfen.“ Und ich bin dann auch nicht beleidigt, wenn der Angesprochene, meine Hilfe ablehnt.

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  2. Manche Menschen sehen leider nicht den anderen Menschen, sondern nur seine Behinderung.
    Ich frage auch höflich, ob ich helfen darf. DARF, nicht KANN!
    Einfach jemanden anfassen und grob herumzerren ist keine Hilfe.

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  3. Ich glaube nicht, dass diese Menschen nur Menschen mit Handycap ungefragt anfassen. Ich glaube die sind immer so übergriffig und ich finde das unmöglich. Schon oft habe ich mich, warum auch immer, mit wildfremden Leuten kurz unterhalten (müssen) und wurde im Gespäch mehrfach berührt. Sowas geht gar nicht. Es muss einfach vorher gefragt werden. Ich reisse ja auch nicht der Mama mit Kinderwagen den selbigen aus der Hand weil denke sie könnte vielleicht an der Treppe Hilfe brauchen. Wenn ich frage kommt oft ein „Danke geht“ auch wenn das auf mich im ersten Moment vielleicht anders wirkt. Und wenn meine Hilfe tatsächlich mal benötigt wird helfe ich gern und frage dann aber auch wie ich helfen soll.

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  4. Ich wollte als Kirchenführer Blinde durch ev. und kath. Kirchen führen und erklären, wobei die Besucher alle erklärten Gengenstände mit ihren Händen erkunden können. Die von mir angeschriebenen Blindenvereine zeigen aber kein Interesse. Ich verstehe die Welt nicht mehr.

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  5. Ich habe im Laufe meines Lebens schon häufig mit blinden Menschen Kontakt gehabt und auch schon einmal Unterricht mit einem Blindenstock genommen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man sich fühlt, wenn man in einer fremden Umgebung, ohne irgendetwas zu sehen, zurecht kommen muss. In Lübeck wurde das angeboten. Eine tolle Erfahrung ! So etwas wie oben beschrieben finde ich daher befremdlich. Einerseits schimpfen wir tagtäglich über mangelndes Interesse, zu wenig Mitgefühl, keiner hilft mehr einem Fremden…. und dann regt sich ein Blinder auf, wenn ihn jemand anfasst. Nicht das er angefasst wird, weil man ihn belästigen oder verhauen will, nein, da machen sich Menschen Sorgen und wollen helfen. Sicher ist es nicht schön, wenn man behandelt wird, als sei man ein völlig hilfloses Kind aber man kann das auch ein wenig positiver sehen. Da will jemand, dass mir nichts passiert. Wenn man sieht, dass ein Kind auf die Strasse zurennt, fragt man auch nicht vorher, ob es denn die Verkehrsregeln kennt und weiss, dass man nur bei grüner Ampfel gehen darf, da greift man beherzt zu. Und das ist auch richtig so ! Und wenn ich sehe, dass eine alte Person mit ihrem völlig überladenen Gehwagen auf eine Kante zusteuert und droht zu stürzen, dann greife ich auch da zu. Soll ich erst warten, ob sie kurz vorher noch umlenkt ? Es wäre sicher schön wenn alle fragen würden, ob jemand Hilfe braucht und ein Nein respektieren. Aber ist das im Affekt möglich? Wir haben noch immer angeborene Reflexe, die uns selbst und andere vor Schaden bewahren.
    Wenn man so eine Abneigung gegen Berührungen hat, dann macht man sich wohl am Besten einen Button an die Klamotten, so nach dem Motto, ich bin zwar blind aber ich brauche keine Hilfe, oder bloss nicht anfassen…. ich finds ein bisschen übertrieben. Und ja, ich bin nicht blind und kann das vielleicht nicht beurteilen aber ich komme aus NRW. Da wird man ständig getätschelt, auf die Schulter geklopft und beknutscht, auch von Leuten, die man gar nicht kennt. Die Meisten sagen, dass man sich hier gleich willkommen fühlt, als wenn man zur Familie gehört, ein offenes Bundesland. Kann man dann sicher auch furchtbar und eklig finden. Ich finde es nett. Und wenn es zu intim wird, dann sagt man halt was und gut !

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  6. @Melanie Lanzer: Nur weil die Menschen Blind sind heißt das aber noch lange nicht das man deswegen jegliche Höflichkeit fallen lassen muss. Für gewöhnlich fragt man erst mal ob jemand Hilfe braucht.

    @all: ich denke dass hat auch viel damit zu tun, ob Leute nur „der ist Blind“ sehen oder ob sie auch begreifen, dass derjenige ein Mensch wie jeder andere ist. Traurigerweise sieht die Gesellschaft aber auf Leute mit Handycap herab.

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  7. @Melanie, ich kann dir nur beipflichten, ich komme gebürtig aus NRW und für mich ist das ebenfalls normal.
    Ich lebe seit über 20 Jahren in Wien, bin blind und wenn mich jemand am Arm schnappt, mir erklärt, dass er mir jetzt hilft, ich aber kein „Bock“ habe, dann bekommt die Person einen Schulterklopfer von mir: „Danke, aber lass gut sei, ich kenn mich aus.“ – fertig.
    Jeder geht seine Wege und vielleicht bin ich ein anderes Mal froh darübher wenn er mir wieder seine Hilfe anbietet.

    Eines darf man dennoch nicht außer acht lassen, dass es auch unangenehme Zeitgenossen gibt, die sehr gerne Frauen „helfen“ um zu grabschen, oder mit aller „Gewalt“ helfen wollen und richtig lästig werden, letztere sind sehr selten, erstere wollen mir nicht helfen.
    Beste Grüße aus Wien
    Andreas

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  8. Hat dies auf Marcos Leben rebloggt und kommentierte:
    Was Heiko hier beschreibt, passiert mir in letzter Zeit auch wieder häufiger. Jahrzehntelang war Ruhe, aber seit zwei, drei Jahren wird auch an mir wieder mehr ungefragt herumgezerrt.

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