Umgang mit behinderten Menschen: Euer Mitleid kotzt mich an!

Ich muss es mal schreiben. Es ist undiplomatisch, ruppig und nicht gerade etwas, das man von einem Menschen hören will, der Kommunikation zum Beruf gemacht hat. Und in der Tat verstehe ich meine Arbeit als PR’ler für die Sache der blinden und sehbehinderten Menschen so, dass ich auch den Kontakt zu Mitbürgern suche, die Vorurteile gegenüber Behinderten haben. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, ihre Vorurteile abbauen zu können. Und das werde ich auch weiter versuchen. Dennoch gibt es auch eine Wahrheit, die ich mal so klar hier formulieren muss: Euer Mitleid kotzt mich an!

Es war auf meinem Weg zur Arbeit, als mich auf dem U-Bahnsteig eine ältere Dame ansprach: „Kann ich Ihnen beim Einsteigen helfen?“

Diese Frage wird mir häufig gestellt, und ich finde sie absolut okay. Ich sage dann in der Regel, so auch zu der älteren Dame: „Nein danke, das geht schon.“

Nach einer kurzen Pause fragt sie: „Und geht das wieder weg?“

Sie meint meine Blindheit. Da bin ich mir sicher. „Nein, das geht nicht mehr weg“, sage ich denn auch.

„Wie schrecklich“, platzt es aus ihr heraus, „so ein junger Mann.“

Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass sie mir doch sagt, wo sich die Wagontür befindet, obwohl ich längst gehört habe, wo sie aufgegangen ist. In der Bahn will sie mir zeigen, wo ein freier Platz ist, obwohl ich vor einem Tag am Schreibtisch auch gern mal in der Bahn stehe. Es ist dieses Nicht-ernst-nehmen, das mich so wütend macht. Wenn ich sage, dass ich keine Hilfe möchte, dann ist das so. Wenn man mich dann nicht in Ruhe lässt, dann spricht man mir ab, selbst zu wissen, was gut für mich ist.

Es kam aber in diesem Fall noch schlimmer. Kurz vor dem Bahnhof, in dem ich umsteigen muss, kam die mitleidende Dame zu mir: „Wo möchten Sie denn gleich hin? Ich helfe Ihnen.“

„Bitte lassen Sie mich doch jetzt in Ruhe“, bat ich. Ich fühlte mich schlecht, irgendwie bedrängt.

„Ich möchte ja nur helfen“, rechtfertigte sie sich, um dann noch ein paarmal „wie schrecklich, so ein junger Mann“ vor sich hinzumurmeln.

Ich bezweifle, dass solche Menschen wirklich nur helfen wollen. Sie verlangen Dankbarkeit für etwas, das ich gar nicht haben will. Ihr Mitleid ist keine Hilfsbereitschaft, ihr Mitleid ist Überheblichkeit. Sie nehmen mich nicht als gleichberechtigten Menschen, sondern als hilfebedürftiges Wesen wahr. Sie übertragen ihr abwertendes Bild von Behinderung auf die behinderten Menschen selbst – ich jedenfalls hatte den Eindruck, mich für meine Blindheit rechtfertigen zu müssen. Möglicherweise fühlen sich die meist älteren Mitbürger sogar noch besonders menschlich, christlich vielleicht, aber das sind sie nicht. Im Gegenteil: ihr aufgedrängtes Mitleid tut weh. Ich jedenfalls fühlte mich an diesem Morgen schwach und entmündigt. Es ist nicht meine Behinderung, die im Alltag frustriert. Es sind Begegnungen wie diese, die Wut erzeugen.

Bereits im Januar 2007 schrieb Christiane Link – sie lebt als Rollstuhlfahrerin in London – in ihrem Blog „Behindertenparkplatz“:

Ich bin jetzt seit mehr als einem Monat in Großbritannien und ich glaube, es war der erste Monat meines Lebens (meine USA-Aufenthalte ausgenommen), in dem mir kein einziger Mensch begegnet ist, der mich offensichtlich bemitleidete. Und das obwohl ich jeden Tag mit Kreti und Pleti im Bus durch die halbe Stadt gurke und manchmal Leute anspreche, ob sie mir in den Bus helfen können, wenn die Rampe sehr steil ist. Können wir das in Deutschland vielleicht auch mal trainieren? Hilfsbereitschaft ohne Mitleid.

Ich möchte Begegnungen wie die mit der Frau in der U-Bahn nicht mehr haben. Und ich bilde mir auch ein, dass sie tendenziell seltener werden. Meine Vision ist, dass es auch in Deutschland eine Zeit geben wird, in der kein behinderter Mensch mehr solche Situationen erleben muss. Daher werde ich auch weiter gegen Vorurteile und für einen respektvollen Umgang mit behinderten Menschen streiten. Ich werde auch weiter über Möglichkeiten und Grenzen blinder und sehbehinderter Menschen informieren und das Gespräch zum Thema suchen. Ich freue mich darauf, Vorurteile abzubauen und Wissenslücken zu schließen (bei meinem Gegenüber und bei mir). Aber ich werde auch sagen, wenn mich Euer Mitleid ankotzt.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (47) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorsitzender der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen und der Erich-Quenzel-Stiftung, zudem in den Vorständen der Stiftung Centralbibliothek für Blinde und der Norddeutschen Blindenhörbücherei, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist Schreiber und Speaker und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

318 Kommentare zu „Umgang mit behinderten Menschen: Euer Mitleid kotzt mich an!“

  1. @ROTHI Das Problem ist, der *Gegenüber* hört meistens mit dem Helfen nicht auf, wenn ein Behinderter sagt, daß er keine Hilfe braucht.

    Es ist völlig in Ordnung, jemandem Hilfe an zu bieten, der hilfesuchend oder überfordert aussieht. Es ist aber nicht in Ordnung, bei jeder Begegnung mit einem Behinderten sofort ans Helfen zu denken und dann drauf los zu helfen. Noch unangebrachter ist es, ohne die Fähigkeiten des Behinderten zu beurteilen bzw. ohne ihn zu fragen und seine Antwort ab zu warten, sofort drauf los zu helfen und mit dem Helfen nicht mehr auf zu hören, obwohl der Behinderte deutlich macht, daß die Hilfe unerwünscht ist, weil es bei ihm nichts zu helfen gibt.

    Tatsache ist, man kann bei jedem Behinderten darauf vertrauen, daß er selber am besten weiß, was er kann und wann er Hilfe braucht. Genauso wie Nichtbehinderte, sind auch alle Behinderten in der Lage um Hilfe zu bitten, wenn diese notwendig ist. Deshalb sollte man im Umgang mit ihnen genauso zurückhaltend sein, wie beim Umgang mit Nichtbehinderten.

    Wertschätzung nicht Mitleid, daß ist es, was wir uns von den Nichtbehinderten wünschen. Eine Behinderung macht nicht zwangsläufig hilfsbedürftig. Aber sie zwingt uns dazu anders zu leben. Die meisten von uns, egal ob blind, gehörlos, amputiert oder gelähmt, leiden nicht unter ihrer Behinderung. Wir wissen das unsere Behinderung nicht änderbar ist. Wir haben uns an das Leben mit Blindenstock, Gebärdensprache, Prothese und Rollstuhl gewöhnt, weil unser Leben so ist. Wir haben lange trainiert, um möglichst viel selber zu können. Viele von uns fühlen sich nicht eingeschränkt. Mit Behinderung zu leben hat für die meisten von uns die gleiche Qualität, wie ohne Behinderung zu leben. Dieses permanente Eingreifen (helfen genannt) in die Selbständigkeit eines behinderten Menschen, schränkt die Lebensqualität weitaus mehr ein, als blind zu sein, gehörlos zu sein oder im Rollstuhl zu sitzen.

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  2. Hi, der Post ist zwar nun schon etwas länger her, jedoch würde ich gerne noch ein Beispiel und meine Meinung einbringen. Ich bin zwar erst 16 Jahre alt, kann aber so glaube ich trotzdem nachvollziehen was gemeint ist, da mein Zwillingsbruder seit seiner Geburt im Rollstuhl sitzt. Was ich merke ist das leider viele Menschen helfen, nicht weil sie sehen das der-/diejenige Hilfe benötigt, sondern um sich selber besser zu fühlen, oder um hilfsbereit vor anderen zu erscheinen. Da in meinem Fall mein Bruder im Rollstuhl sitzt, weis ich wann ich helfen muss und wann nicht. Wenn man jemandem helfen will sollte man daraus erstens keine zu große sache machen, da es so eher unangenehm wird für denjenigen/diejenige weil er oder sie sich dadurch in der Öffentlichkeit automatisch als schwach und hilfsbedürftig sieht und vor allem so angesehen wird. Zweitens sollte man wie schon in vorigen Kommentaren erwähnt sich erkundigen wie überhaupt richtig zu helfen ist (Meiner Meinung nach liegt dort ein großer Fehler in unserem Schulsystem, weil die meisten nie gelernt haben wie man z.B. einen Rollstuhl richtig die Treppe hochzieht usw.).

    Wenn Leute überschwinglich ihre Hilfe aufdrängen und den Sozialen raushängen lassen, und dafür noch Ansehen und Dankbarkeit verlangen kotzt das echt an, weil dieser Hilfe dadurch viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als von Nöten ist. Das ist auch, was mich so sehr aufregt, dass Menschen mit Behinderung als sowas „Besonderes“ angesehen werden anstatt als normale Mitbürger die wie normale Mitbürger und nicht mit großem Mitleid und unangenehmer Aufmerksamkeit behandelt werden sollen!

    Tut mir Leid wenn ich mich schlecht ausdrücke aber ich hoffe die message ist durchgedrungen..

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  3. Das ist ein schwieriges und komplexes Thema, das sich aus verschiedenen Perspektiven sicherlich noch dazu ganz unterschiedlich darstellt. Definitiv sollte von allen Seiten versucht werden Verständnis für die jeweils andere Seite aufzubringen. Vieles ist weiter oben über das Erleben derer geschrieben worden, die sich bei solchen unerbetenen „Hilfeaktionen“ bevormundet fühlen. Guter Wille und der Wunsch zu helfen kann ja nun aber auch nicht pauschal verurteilt oder gar abgestellt werden. Darüber hinaus, wieviele behinderte Menschen gibt es, die sogar im Alltag auf die Hilfe anderer regelrecht angewiesen sind? Und sich evtl. nicht trauen, zu fragen? Auch das sollte im Blick behalten werden.

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  4. An all die übertriebenen Gutmenschen, die hier die ältere Frau in Schutz nehmen. Ich sehe das genauso wie der Verfasser des Blogs. Mitleid ist ein absolutes Unding in solch einer Situation. Es ist tatsächlich arrogant und überheblich. Denn das Mitleid was diese Frau empfindet rührt aus einer blinden Überheblichkeit her. Sie glaubt, dass Herr Kunert ein armer Tropft ist. Und warum? Weil er nicht in ihr gewohntes Weltbild passt und deswegen ein armer Hund ist. Herr Kunert ist, ich gehe mal davon aus, blind auf die Welt gekommen. Somit kennt er seine Umgebung auf seine eigene Weise die wir nie verstehen können. Und Mitleid für jemanden zu empfinden weil er anders ist, als das was man gewohnt ist, ist nicht mitfühlend sondern einfach nur dumm oder arrogant. Woher ich das so sicher sagen kann? Ich kenne unangebrachtes Mitleid, da es mir gegenüber oft und regelmäßig angebracht wird. Diese Leute glauben, dass mein Leben nicht in geregelten Bahnen läuft und ich nicht den gutbürgerlichen Traum lebe, sondern das mache was mir gefällt. Und das was ich tue passt so gar nicht in das Weltbild des Otto-Normal-Verbrauchers. Da dieses Verhalten von vielen nicht verstanden wird. Diese Leute merken meist gar nicht wie Respektlos sie sich verhalten. Sie gehen einfach davon aus, dass das Leben so wie sie es kennen, das einzig Wahre ist. Und jeder der nicht in dieses Weltbild passt wird bemitleidet. Entschuldigt, aber das ist erbärmlich, arrogant oder einfach nur geistig beschränkt. Schaltet endlich euer Hirn ein!

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  5. Der Artikel ist nun schon 5 Jahre alt und ich bin zufällig darauf gestoßen. Vom Datum her ist das Thema eigentlich schon ein alter Hut, dennoch ist es aktuell und das wird sich auch nicht ändern, es sei denn dass…
    Und das ist der Grund meiner Zeilen. Auch angesichts der Kommentare – die wenigen, die ich gelesen habe – würde ich gerne meinen Senf zur Diskussion beitragen.

    Vorab die Information, dass ich selbst betroffen bin. Seit meiner Geburt bin ich gehbehindert und falle in der Öffentlichkeit durch mein Bewegungsprofil mehr auf als ein Rollstuhlfahrer.
    Damit komme ich auch schon zum wesentlichen Punkt. Ein Rollstuhlfahrer wird in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen als jemand, der sich auffällig bewegt und das hat ganz einfach mit dem Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont Nicht-Behinderter zu tun. Denn viele Menschen haben schon einmal in einem Rollstuhl gesessen, sei es nach einer OP oder nach einem Unfall, oder kennen Leute, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, z.B. aus Altersgründen. Die Bilder, in denen Menschen denken, haben Parallelen zu ihrer eigenen Welt und sind deshalb nicht fremd. Im Gegensatz zu meinem Bewegungsprofil, mit denen Leute nichts anfangen können, zu denen sie keine Erfahrungen haben.
    Als Kind hatte ich oft das Gefühl, in einem Zoo zu sein, allerdings auf der anderen Seite des Zauns. Die Erfahrung daraus ist, dass je weiter ein Verhaltens- oder Bewegungsmuster von den Erfahrungshorizonten des Menschen ist, desto fremder erscheint ihm die Situation. In solchen Momenten greift „Mensch“ auf instinktive Verhaltensmuster zurück. Zurückhaltung, Scheu, Angst, aber auch der Versuch von Hilfestellungen, allerdings ohne Vorstellung davon, wie das aussehen könnte.
    Ich stelle mir das bei Blindheit ähnlich vor. Man muss sich z.B. nur die Augen zuhalten und weiß vermeintlich, wie das ist, wenn man blind ist.
    Aber dass ein Blinder ganz andere Wahrnehmungsfähigkeiten hat, er z.B. mit dem Gehör „sehen“ kann, ist den meisten Menschen fremd, Eben weil sie selbst es nicht erfahren. Und dann kommen die Instinkte.

    Irgendwo weiter oben steht in einem Kommentar, dass Nicht-Behinderte behindert sind, wenn es darum geht, die Perspektive eines Behinderten einzunehmen. Und das ist völlig richtig.
    Ich erinnere mich an eine Situation vor ewigen Jahren. Eine ältere Dame wollte mir gegenüber gefällig sein (in den Kommentaren hier ist die Rede von „Hilfsbereitschaft“) und hat mir gegenüber nicht verbal, sondern durch Gesten versucht zu kommunizieren.
    Aufgrund Nicht-Behinderter, die Menschen wie mich als geistig behindert abstempeln, weil ich mich anders bewege, habe ich mir in meiner Jugend eine gewisse Arroganz angewöhnt, die sich z.B. darin äußerte, dass ich Leute direkt angesprochen habe, ob sie ein Passfoto von mir haben wollen. Die ältere Dame, die evtl. nur gefällig sein wollte, habe ich angeblafft, ob sie einen Sprachfehler habe. Sie ist daraufhin knallrot angelaufen und hat auf dem Absatz kehrt gemacht, ohne ein Wort zu sagen.
    Tage später habe ich über diese Situation nachdenken müssen und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass es vielleicht wirklich so war und sie nicht sprechen konnte, sei es nur aus Verlegenheit. Auch wenn diese Annahme falsch sein kann, nenne ich seit diesem Erlebnis ein solches Verhalten, wie ich selbst es an den Tag gelegt habe, vermessen.
    Ein Nicht-Behinderter weiß nicht um die Situation eines Behinderten und tut das, was er/sie in diesen Momenten für richtig hält. Genau so, wie ein Behinderter das mit Nicht-Behinderten macht. Nur mit dem Unterschied, dass ein Behinderter über seine Situation mehr weiß, als ein Nicht-Behinderter und letzterem damit überlegen ist. Damit ist die Kernfrage in solchen Situationen: Wer gibt schon gerne zu, unterlegen zu sein? Noch dazu einem Behinderten…
    Dabei ist es schlichtweg nur Unkenntnis des Anderen, des Fremden. Und das ist menschlich. Nur aus der Pespektive von Behinderten wird Mitleid daraus.

    Lieber Heiko Kunert,
    danke für das Forum. Aktivismus in Sachen Behindertenpolitik ist eine gute Sache und auch dieses Blog verdient Beachtung. Aber es sollte sachlich bleiben. Nicht-Behinderte für ihre Behinderung zu kritisieren, die Welt der Behinderten nicht zu verstehen und dementsprechend „falsch“ zu handeln, ist Ausdruck der Unfähigkeit seine eigene Behinderung zu akzeptieren und damit zu leben. Zudem ist das ein Widerspruch in sich. Wenn man selbst nicht leidet, wieso sollte man dann anderen Mitleid für die eigene Situation unterstellen?
    Es ist deshalb vermessen zu sagen „Euer Mitleid kotzt mich an.“

    Als Provokation erkenne ich das an und stelle mich gerne der Diskussion, denn ich sehe die gesamte Behindertendiskussion ein wenig differenzierter.
    Die Welt schuldet den Behinderten gar nichts. Das Gejammer derer, die das nicht einsehen oder mit sich selbst im Unreinen sind, ist etwas, das mich ankotzt.
    Genau so wie die linksliberalen und ach so toleranten Vertreter einer Sozialgemeinschaft die sich berufen fühlen, den Behinderten dieser Welt einen Gefallen zu tun. Derartige „sozialverträglichen“ Gesinnungen dienen nur dazu, sich über vermeintlich Schwächere auf einen Sockel zu stellen und den „Schwachen“ zu erklären: Du kannst das nicht, lass mich das machen. Hierbei geht es nur um das Ego der Sozialarbeiter, Behindertenbetreuer und sonstigen „Helfer“. Sie drängen Behinderte in die Rolle der Schwachen, in eine Rolle, die geschaffen wurde von politischen Vertretern, die keine anderern willigen Opfer gefunden haben, über die sie sich erheben können.
    Jemand, der als Behinderter von Mitleid anderer spricht, gibt diesem System Recht. Denn irgendwo findet sich immer ein Nicht-Behinderter der diesem Klischee entspricht und die Rolle des Helfers allzu gerne ausfüllt. Viel schlimmer ist darüber hinaus der Umstand, dass man sich in die Rolle des Schwachen fügen muss, um Leistungen der Institutionen beanspruchen zu können, die eigentlich dazu geschaffen wurden, Nachteile auszugleichen.

    Ich sage nicht, dass das System falsch ist. Aber wer nach Hilfe ruft oder anderen Mitleid unterstellt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich jemand auf den Sockel stellt. Nachteilsausgleiche für Behinderte sollten vielmehr in allen Diskussionsrunden selbstverständlich sein und nicht Gegenstand von Debatten, bei denen sich Nicht-Behinderte als Gutmenschen feiern lassen. Das in einem der obigen Kommentare genannte Beispiel zu den akustischen Ampeln passt hier gut. Diese Dinge sollten einfach ohne Debatte standardisiert sein. Stattdessen muss ein Gutmensch aus „Mitleid“ tätig werden…
    Das Gleiche gilt aber auch für Behinderte, die sich in die Rolle des Versorgungsanspruchsberechtigten fügen und dazu die Mitleidsnummer spielen, weil sie sich davon einen Vorteil versprechen.

    Liebe Behinderte: Hört auf zu jammern!

    Auf youtube finden sich ein paar Videos von einem Gitarristen, der ohne Arme geboren wurde. Mark Goffeney spielt Gitarre mit den Füßen und ist als Sprecher u.a. für Behindertenorganisationen tätig. Seine Vorträge, die er mit seiner eigenen Musik untermalt, handeln fast ausschließlich von seinen Erfahrungen, wie andere Menschen mit seiner Behinderung umgehen und wie er diese Menschen vorführt, angefangen damit, dass er keine „normale“ Schule besucht hätte, wenn seine Mutter sich nicht dafür eingesetzt hätte. Goffeney greift die Vorurteile seiner Mitmenschen auf und hält sie den Leuten auf sehr offensive Art unter die Nase.
    Es stellt sich natürlich die Frage, ob es das ist, was die Leute sehen wollen, oder einfach nur seine Musik hören wollen. Denn der Mann macht gute Musik. Ich denke, dass seine Musik nicht wegen seiner Behinderung gekauft wird, sondern einfach nur weil sie gut ist. Würde er nur den Ententanz mit den Zehen auf der Gitarre zupfen, wäre sein Erfolg begrenzt, weil es eine Freakshow wäre, wie das früher erlaubte Zwergenschießen im Zirkus.

    Ich habe in meinern Leben eine Menge Leute kennen gelernt, die sich aufgrund einer Behinderung zu besonderen Leistungen aufgerufen fühlten. Einer von diesen Menschen ist aufgrund einer durch Polio bedingten einseiten Beinlähmung auf eine Orthese angewiesen, um mit nur einer Unterarmgehstütze laufen zu können. Um sich selbst etwas zu beweisen ist er ohne Orthese auf Krücken durch die Wüste Namib gelaufen und mit einem Ruderboot durch Sibirien gepaddelt. Dennoch hat er auch danach auf Mitleid seiner Mitmenschen allergisch reagiert. Aus dem ganz einfachen Grund eines Problem mit sich selbst, das er auf der psychologoischen Ebene nicht in den Griff bekommen hat. Das sind die Leute, die sich über Hilfestellungen Nicht-Behinderter aufregen.

    Mark Goffeney macht aus seiner Behinderung ein Geschäft, in dem er seine aus einer Behinderung resultierenden Fähigkeiten in den Vordergrund rückt. Es bleibt dem Käufer seiner Musik selbst überlassen, ob das aus Mitleid oder aus Bewunderung funktioniert, Goffeney macht seinen Schnitt dabei. Man könnte sagen „he got over it“ und es ist ihm egal, warum die Leute kaufen. Er würde jedenfalls nicht rumjammern, dass die Welt ihm etwas schulde.
    Eine Bewertung nach deutschen Schwerbehinderterecht würde sogar dazu führen, dass Mark Goffeney mitunter noch nicht einmal gleich gestellt wäre. Denn es geht dabei um Nachteilsausgleich wegen entgehener Lebensqualität. Das System in Deutschland würde ihm aber ganz etwas anderes unterstellen, denn Mr. Goffeney gestaltet sein Leben nach seinen Vorstellungen. Und damit hat er vielen Nicht-Behinderten etwas voraus. Er fügt sich nicht dem System, sondern gestaltet es nach eigenem Gusto.
    Soll ich jetzt noch einmal fragen, wer sich auf die Sockel stellt, die geschaffen wurden, um anderen zu „helfen“?

    Es ist alles eine Frage der Perspektive und die hängt von jedem selbst ab. Wenn man seine Fähigkeiten nutzt, ist eine Behinderung völlig nebensächlich, manchmal sogar die Grundlage für besondere Fähigkeiten, die kein Mitleid, sondern Bewunderung nach sich zieht. Schlussendlich geht es um Inhalt und wie man das für sich wertet. Als Nicht-Behinderter, oder als Behinderter.

    Zu guter Letzt will ich mir die ketzerische Frage erlauben, warum dieses Blog gelesen wird. Aufgrund der Inhalte, oder weil man sich fragt, wie ein Blinder das macht und man ihn deshalb bewundert?
    OK, die Frage ist nicht ketzerisch, sondern rhetorisch. Und der geneigte Leser dieses Blogs kennt sicherlich schon die Antwort. Ich jedenfalls bewundere nicht die Tatsache, dass Heiko Kunert als jemand, der auf einem Monitor nichts sehen kann, einen Blog im Internet betreibt, sondern vielmehr den Mut aufbringt, Dinge zu verändern, in dem er sie publiziert und Menschen zum Nachdenken anregt, was viele andere nicht machen. Obwohl sie sehen können und diese Fahigkeit darauf beschränken, Katzenbilder zu posten und das tägliche Wohlbefinden auf Facebook zu verkünden. Eigentlich müsste man für diese Leute Mitleid aufbringen. Aber dazu müsste es diesen Leute ja schlecht gehen.

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  6. Ich bin auf diesen Blog gestoßen, weil ich herausfinden wollte,ob es auch andere Behinterte,denen Hilfe regrecht aufgezwungen wird. Auch wollte ich wissen ob andere Behinterte, so wie ich, massiv beschimpft werden, weil sie dem hilfsbereiten Fremden klar machen, daß er das Helfen, Beaufsichtigen und/oder Bevormunden, das nicht benötigt wird, doch endlich beenden soll. Es wäre schön wenn Nichtbehinderte durch diesen Blog für Behinderte mit großer Altagsselständigkeit Wertschätzung, statt Mitleid und Wut empfinden lernen.

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  7. Der zugrunde liegende Text ist ja nun schon einige Jahre alt. Da er jedoch weiterhin in der Liste der Top-Artikel dieser Internetseite auftaucht, erlaube ich mir noch folgende Anmerkungen aus meiner Erfahrung:

    Es ist eines jeden Blinden gutes Recht, ihm angebotene Hilfe im Alltag abzulehnen. Gleichfalls hat aber auch ein jeder Blinder (wobei für die Blindheit vermutlich auch die meisten anderen Behinderungen einzusetzen wären) die Möglichkeit, Hilfe anzunehmen. Und ist es nicht sogar positiv zu bewerten, wenn in einer Sozialgesellschaft die Stärkeren den in der entsprechenden Situation Schwächeren zur Hilfe kommen: die Gesunden den Kranken, die Jungen den Alten und eben auch die Nichtbehinderten den Behinderten? Jede und jeder gemäß seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Begabungen?

    Und dabei halte ich es für nur zu verständlich, dass hierbei eine gewisse Portion Mitleid ins Spiel kommt: Der Sehende kann sich die Welt des Blinden nicht 100-prozentig vorstellen und umgekehrt. Mitleid, welches aus einer durch den Sehenden wahrgenommenen Einschränkung des Blinden entsteht, halte ich für eine nur zu menschliche Angelegenheit. Oder sollen die Sehenden nun gehobenen Hauptes an uns Blinden vorbeigehen und sich denken, dass heutzutage eben jeder seine eigenen Sorgen zu bewältigen hat?

    Ich kenne nun genügend Blinde, die diese Einschränkung vielleicht nicht „sehen“ und stattdessen auf alternative Fähigkeiten verweisen, die vielleicht ohne die Blindheit nie zu Tage getreten wären. Alles OK. Aber helfen mir diese Fähigkeiten in der konkreten Situation weiter? Hilft mir ein etwaiges besseres Gehör wirklich, wenn ich nicht lesen kann, ob mein Zug heute auf Gleis 3 oder 6 angekommen ist?
    Es mögen reziprok dazu wieder andere Begebenheiten vorkommen, in denen der Blinde der objektiv Überlegene ist und möglicherweise dem Sehenden eine Hilfestellung sein kann. In meinem obigen Bahnhofbeispiel ist dies eklatant nicht der Fall.

    Wenn Sie, lieber Herr Kunert, nun dieses (zugegebenermaßen aufdringlich daherkommende) Mitleid als eine Art Überheblichkeit werten, diskreditieren Sie dann nicht diejenigen, die es mit ihrer Hilfsbereitschaft ernst nehmen? (Und das wird ja noch die überwiegende Mehrzahl sein.)
    Schließlich sehe ich für diese Art der Blinden-PR anstatt des gewünschten Erfolgs eher das Risiko, dass uns Blinden aufgrund solcher arrogant formulierten Passagen (jedenfalls liest sich der Artikel für mich so) manche notwendige Hilfe tendentiell verwehrt statt gewährt wird. Hätte es anstatt des polemischen Ausrufs „Euer Mitleid kotzt mich an“ nicht auch ein etwas dezidierter formuliertes Traktat darüber getan, dass man den Blinden doch in Ruhe lassen soll, wenn das Hilfsangebot einmal ausgeschlagen wurde?

    PS: Nennen Sie mich nun ruhig allesamt „Gutmensch“, „linksliberal“ oder meinetwegen auch „Unselbständiger“ und „Schmarotzer“. Damit kann ich klarkommen.

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  8. Herzlichen Dank für diesen YouTube Kanal! Das gefällt mir und denke auch unserer Selbsthilfegruppen Freunde . Gleich Abonniert und auf unsrer Facebook SHG Seite gepostet. Die die Internet machen alle informiert.
    Es gibt ja viel zu viel unterirdisches gerade auch auf YouTube . Da bin ich für jeden Kanal dankbar der gut fürs Leben ist.

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  9. Alle Kritiker des von Herrn Kunert verfaßten Artikel sollen sich einmal vorstellen, wie es ist, wenn SIE ein Hilfsangebot ablehnen, weil sie gerade keine Hilfe brauchen, ihr Gegenüber ihnen aber nicht erlaubt, selbständig und unabhängig von Hilfe zu sein. Und das unzählige male am Tag.

    Hier geht nicht um Hilfsbereitschaft JA oder NEIN. Hier geht es darum behinderte Menschen nicht zu bevormunden. Lasst uns bitte selber entscheiden ob wir ohne EUCH zurecht kommen können oder nicht. Denn sind wir auf uns alleine gestellt, brauchen wir EURE zwar nett gemeinte, aber aufdringlich aufgezwungene Hilfe genauso wenig wir IHR selbst. NEIN heisst NEIN. Nicht nur bei sexueller Belästigung, sondern auch bei der Belästigung durch uneinsichtige HELFER.

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  10. Wenn der blinde Hilfe benötigt ,dann wird er sich äußern, und wenn eine älter Damen solche Sätzte von sich gibt, frage ich mich wer ist den Behindert ? Den bei mir ist es noch heftiger, wenn man geistige Behinderung nicht sehen kann und Aussagen kommen “ Sie sind doch nicht behindert ! “ Ist der behindert oder ich ? 😉 daher kann ich Dich gut verstehen 😉
    Nur wenn man Hilfe benötigt bekommt gar keine. Das ist die shizhoprhenie an der Geschichte 😦

    Gruß Siggi

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  11. #Dubistblind, falls du selten sehende Hilfe findest, wenn du sie gerade brauchst, dir andere aber oft helfen wollen, wenn bei dir alles OK ist.
    #Dubistblind, wenn du dich über unauffällige Hilfe freust.
    #Dubistblind, wenn Sehende anderen gerne davon erzählen, wie sie dir geholfen haben.
    #Dubistblind, wenn deine Mitmenschen dich oft bewundern, bemitleiden oder bevormunden. Gerne auch gleichzeitig.
    #Dubistblind, wenn wildfremde Menschen dir spontan sagen, dass sie für dich beten wollen oder dass sie dich inspirierend finden.
    #Dubistblind, wenn man dich manchmal behandelt, als wärst du auch noch schwerhörig, gehbehindert und debil.
    #Dubistblind, wenn du mitleidige Blicke wenigstens nicht sehen musst.

    Ich finde, diese Sätze passen zum sehr komplexen Thema. Ich habe noch mehr davon für die Rubrik „Du und die Sehenden“ auf meiner neuen Site formuliert. Manches davon stimmt auch, wenn man das Wort „blind“ durch das Wort „behindert“ ersetzt:
    https://dubistblind.wordpress.com/du-und-die-sehenden/

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  12. Und als Theologe (geburtsblind) wage ich einfach mal die Behauptung: Dieses Mitleid hat nichts mit Christentum zu tun; man schaue sich nur mal an, wie Jesus mit behinderten Menschen umgeht; Beispiel Markus 10,46-52; der blinde Bettler (war damals so) wird von Jesus aufgefordert zu kommen; er muss sich den Weg bahnen durch die Menge, die ihn abhalten will usw.; Jesus fragt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Er will, dass der Blinde aktiv wird, seinen Wunsch formuliert; die Heilung ist in dem Evangeliums-Textchen überhaupt nicht so entscheidend, sondern das Menschenbild. Jesus könnte ‚allwissend‘ mitleidig einfach beherzt eingreifen; tut er ausdrücklich nicht, nimmt sein Gegenüber ernst, fordert es zum Aktivsein auf und heraus. Das ist Christentum. Amen. 🙂

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  13. Das in Kunerts Eröffnungstext beschriebene Mitleid gegenüber uns Blinden als nicht dem christlichen Glauben zugehörig einzustufen (wie in Pavkovics Beitrag angeklungen), halte ich aber doch für relativ problematisch. Problematisch all jenen gegenüber, die es ernst meinen mit ihrem Mitgefühl, die ihre Hilfe anbieten, die vielleicht nicht wissen wie, die aber bemüht sind, die es im besten Sinne richtig machen wollen. Wer möchte all jenen Leuten das ernsthaft verdenken? Ich nicht.

    Das wäre nun mein Verständnis vom christlichen Glauben, als Stärkerer dem Schwächeren so gut als möglich Unterstützung zu leisten. Der Schwächere muss dabei nicht immer der Blinde sein. Es werden sich genauso Situationen ereignen, in denen der Stärkere einer von uns Blinden ist, weil es in der betreffenden Angelegenheit um nichts geht, wofür man funktionierender Augen bedürfte. Wie dann bei einer solchen Begebenheit verhalten – und dazu noch christlich? Mir fehlt aktuell die hinreichende Antwort auf diese Frage.

    Und dann wären da noch die Diskussionen über eine angeblich immer kälter werdende Gesellschaft. Selbst überprüfen kann ich diese Sache nicht, dazu müsste ich schon einige Dekaden mehr auf diesem Planeten zugebracht haben. Wenn wir – ob blind oder taub oder Rollstuhlfahrer oder gar nichts von alledem – uns jedoch anmaßen, über zulässiges und unzulässiges Mitleid oder Mitgefühl oder Anteilnahme oder wasauchimmer zu urteilen, beschreiten wir dann nicht genau jenen Weg der Geisteskälte, der Ellbogenmentalität, der Gleichgültigkeit? Möge der Stärkere gewinnen … na dann viel Spaß!

    Das war nun freilich äußerst überspitzt, bewusst überspitzt. Ich habe aber das Anliegen, davor zu warnen, die Menschlichkeit in unserem gemeinschaftlichen Miteinander an den Nagel zu hängen. Und ist Mitleid (wie es sich auch äußern mag) nicht (mehr) Ausdruck einer menschlich-emotionalen Weltsicht?

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