Der ganz normale Bahnsinn

Verlieren Sie nie Ihre Bahn-Card in einem Zug der Deutschen Bahn. Als ich vor einigen Wochen mein Etui mit Ausweis und Bahn-Card beim Aussteigen am Dammtor im Abteil vergaß, ahnte ich nicht, welch einen Spaß ich noch haben würde. Der Zug sollte in Altona enden. Das Reinigungspersonal würde meine an sich wertlosen Sachen finden, und ich würde dann zum Fundbüro gehen, und alles wäre super. So dachte ich mir das. Die Realität war eine andere. Entweder wurde der ICE in Altona nicht gereinigt, oder das Personal nahm es nicht so genau mit den Fundstücken. Jedenfalls konnte mir die Online-Suche auch zwei Wochen nach dem Verlust kein Ergebnis liefern. Mein persönliches Vorsprechen im Fundbüro der Bahn am Hamburger Hauptbahnhof erbrachte nur eine patzige Antwort des Mitarbeiters: „Da stand ja Ihr Name drin. Sie hätten von uns gehört.“ Aha, Fehler ausgeschlossen, logisch.

Ähnlich hilfsbereit war der Mitarbeiter im Reisezentrum Dammtor, den ich für meine nächste Bahnfahrt um eine vorläufige Bahn-Card bat. Da ich dort bereits im Februar einmal eine solche erhalten hatte, wusste ich, dass das prinzipiell möglich ist. „Das machen wir nicht. Da müssen Sie die Bahn-Card-Hotline anrufen. Sie kriegen dann in zehn Tagen eine neue Karte, kostet 15 Euro. Und Sie müssen sich jetzt eine Fahrkarte zum vollen Preis holen. Die kriegen Sie später erstattet, das kostet auch 15 Euro.“ Ob der Verdacht, dass der Mitarbeiter seinem Job eher lustlos nachgeht, unbegründet ist? Ich erklärte ihm jedenfalls, dass ich bereits ein ermäßigtes Online-Ticket für die nächste Tour nach Frankfurt/Main hätte. „Da kann ich Ihnen gar nicht helfen. Online ist ja unsere Konkurrenz.“ Ich gab zu verstehen, dass doch alles Deutsche Bahn sei, ob nun Schalter oder Onlineshop. „Die Zeiten sind lange vorbei. Das sind alles eigene Firmen.“ Schön, wenn interner Wettbewerb auf Kosten des Kunden ausgetragen wird.

Der unfreundliche Dammtor-Mann wandte sich immer wieder an meine Begleitung, nicht an mich. Blinde Kunden sind wohl keine gleichwertigen Kunden. Wie dem auch sei: Selbst wenn der Herr von seinem Vorgesetzten eingeschärft bekommen haben sollte, dass er nicht die betriebsinternen Feinde vom Onlineverkauf unterstützen dürfe, so hätte er mir doch zumindest anbieten können, einmal beim Bahn-Card-Service anzurufen und zu klären, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte. Nein, stattdessen kritzelte er einem nichtsehenden Kunden die Telefonnummer der Bahn auf einen kleinen Zettel und schickte mich weg. Mein Zug sollte in einer halben Stunde fahren. Service, Spontanietät und Offenheit sind bei der Bahn keine Tugenden.

Autor: Heiko Kunert

Heiko Kunert (47) ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und selbst blind. Er ist Vorsitzender der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen und der Erich-Quenzel-Stiftung, zudem in den Vorständen der Stiftung Centralbibliothek für Blinde und der Norddeutschen Blindenhörbücherei, sowie Mitglied im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale Hamburg. Er ist Schreiber und Speaker und engagiert sich für Inklusion und Barrierefreiheit.

3 Kommentare zu „Der ganz normale Bahnsinn“

  1. Wow, das ist wirklich ein starkes Stück – in jeder Hinsicht.
    Von der Konkurrenz wusste ich noch nichts und es ist wohl auch nicht im Interesse der Bahn, dass das die Kunden mitbekommen.

    Wie ist es denn ausgegangen? Musstest du beim Kontrollieren nachzahlen?

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  2. Hallo Heiko!

    Ich folge dir auf Twitter (prodefi). Dein Bahn-Abenteuer ist stark, zeigt aber nur die „Normalität“.
    Ich lebe in Frankreich. Meine jungen Nachbarn sind taub. Wir haben viel Spaß miteinander, wenn wir uns Zettel rüberschicken zwecks Kommunikation. Die andere Nachbarin von „nebenan“ ist sauer, weil die beiden manchmal Lärm machen (sie wissen eben nicht, was das ist). Und so fragte sie mich: „Dürfen die überhaupt hier wohnen? Müssen die nicht in ein Heim?“ No comment.

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