Perforierte Ecken statt Stift und Kreuzchen

Was muss grandioses geschehen, damit man an einem Samstag Nachmittag – genau in dem Moment, in dem die Sonne sich endgültig gegen die Hamburger Wolken durchsetzt – seinen sympathischen Besuch aus der Ferne für fünf Stunden verabschiedet, um sich mit mehr als 100 anderen Menschen in einen stickigen Raum in Lurup zu setzen? Es ist Zeit für Demokratie und Diskussion: Am 19. April hat die General-Versammlung des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg den Vorstand für die nächsten vier Jahre gewählt. Da wollte ich nicht fehlen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich Politikwissenschaften studiert und schon als kleiner Junge gern Wahlberichterstattung im Fernsehen geguckt habe (weil dort soviel Pannen passierten), Wahlen finde ich immer spannend. Und auch diesmal war es aufregend, wer wohl die Kampfabstimmung um den zweiten Vorsitz und um die zwei Beisitzer-Positionen gewinnt, wieviel Stimmen die Kandidaten erhalten. Die Wahl ist geheim. Damit blinde und sehbehinderte Mitglieder ohne Stift und Kreuzchen, ohne Lupe und Scanner ihre Stimme abgeben können, benutzen wir an den Ecken perforierte, Postkarten-große Zettel. Eine abgerissene Ecke bedeutet eine Stimme für Kandidat 1, zwei abgerissene Ecken eine Stimme für Kandidat 2 usw. Einfach, aber genial. Im Kern wurde der bisherige Vorstand bestätigt. Lediglich der Schriftführer hatte nicht mehr kandidiert und musste ersetzt werden. Somit hatte sich nach fünf Stunden nur wenig verändert, aber manchmal ist ja selbst das eine interessante Nachricht und einen Sonnen-Verzicht wert.

  • 1. Vorsitzende: Petra Meyer
  • 2. Vorsitzender: Hilding Kissler
  • Schriftführer: Carsten Albrecht
  • Beisitzer: Ivanka Kobsch und Riko Zellmer

I keep the faith

Nur wenige Menschen wirken nicht peinlich oder verlogen, wenn sie von Menschlichkeit, Gemeinschaft und internationaler Solidarität sprechen. Billy Bragg ist einer von ihnen. Der Brite war am Dienstag in der Hamburger Markthalle. Michi und ich sind der Meinung: Das war spitze! Und ich verrate jetzt, warum.

Bisher hatte ich Bragg live immer mit seiner Band gesehen. Diesmal war er solo on Tour. Ich hatte mich auf einen gemütlichen Liedermacher-Abend eingestellt. Ein dummer Irrtum: schon das erste Stück – die E-Gitarre auf Anschlag, die Stimme klar und Rhythmus-akzentuiert – hat gerockt, dass sich die Balken bogen und die jungen bis alten Fan-Beine wippten. Bragg, der dereinst als erfolgloser Punkrocker startete und später unvertonte Woody-Guthrie-Songs einspielte, brachte die Halle zum dampfen und schließlich zum Kochen. Das Repertoire reichte von seinen alten Arbeiterliedern bis zu den neuen, souligen Tracks. Und die treue Gemeinde hing an den Lippen des coolen Predigers, ganz gleich, ob er von seiner Kindheit auf dem Bauernhof oder von seinen Stimm-Problemen auf der US-Tour plauderte oder darüber reflektierte, dass jeder zehnjährige heut die schlimmsten Schimpfwörter einfach googeln könne. Und Bragg verwahrte sich gegen Vorwürfe, er hätte seine politischen Ideale verraten, als er Beethovens Neunter einen englischen Text verpasste und das Werk vor der Queen aufführen ließ: „Hey, she came to my concert!“

Und man konnte eine Feder fallen hören, als Bragg zu seiner finalen, dann doch etwas altklugen, Abschlussrede ansätzte: Bei vielen Besuchern schwangen sicher eigene Erinnerungen und Fragen mit, als Bragg von seinem politischen Aha-Erlebnis berichtete. Ein Clash-Konzert im Londoner Eastend, im Rahmen einer Anti-Rassismus-Demo mit 100.000 Menschen, das sich in diesem Jahr zum 30. Mal jährt. Bragg merkte dort, dass er mit seinen Wünschen und Idealen nicht allein sei und dass Musik etwas verändern könne. Heute heißt sein Feind nicht mehr Rassismus oder Kapitalismus. Der Songwriter mit dem fantastischen Akzent, warnt uns stattdessen vor Zynismus. Wenn wir meinten, wir könnten nichts verändern, oder glaubten, etwas zu tun, bringe nichts, und wenn wir alles dafür täten, dass die anderen Menschen auch so denken, dann sei das die größte Gefahr unserer Zeit. Sicherlich fühlte sich der eine oder andere im Publikum – und der Schreiber dieser Zeilen möchte sich da gar nicht ausnehmen – ein kleines bisschen ertappt. Aber dann singt Billy „I Keep The Faith“ – und er meint damit seinen Glauben an uns – für die bewegte Menge, und unsereins stellt fest, dass der Künstler recht hatte: Musik kann wirklich etwas verändern.

Links zum Thema

Billy Bragg im TAZ-Interview: http://www.taz.de/1/leben/musik/artikel/1/patriotismus-kann-doch-ok-sein/?src=SE&cHash;=7a4c787b49

Braggs Homepage: http://www.billybragg.co.uk/

Mein verlinktes Hamburg

Es soll ja wirklich sympathische Menschen geben, die Hamburg noch nicht kennen. Kündigt sich ein solcher Besuch aus der Ferne für ein Wochenende an, steht der Einheimische vor der Frage: Was zeige ich in zwei Tagen? Was muss man gesehen haben? Beschränke ich mich auf mein Hamburg oder machen wir, was die Reiseführer für unablässig erachten?

Bleiben wir hier einmal bei meinem Hamburg: Sollte der obligatorische Spaziergang einen Teil des Alsterwanderwegs entlang führen, der über mehr als 30 Kilometer vom waldigen Schleswig-Holstein durch die Alstertäler in die Innenstadt und zum Hafen führt? Oder flaniert man an der Elbe entlang, wo die gediegenen Häuser über bunten, duftenden Gärten und dem Elbstrand thronen? Und wo wird bei Sonnenschein gechillt? Auf einer der kleinen Stadparkwiesen oder in einem Café mit Alstersteg? Ach ja, Essen muss man auch noch: holt man sich frisches Obst und Gemüse, Würstchen vom Bioschlachter, würzigen Käse und betörend duftende Kräuter auf dem Goldbekmarkt, dem wahrscheinlich schönsten Wochenmarkt Hamburgs, direkt am Kanal gelegen? Oder isst man zünftig im Niewöhner, das zurecht seit beinah 90 Jahren seinen Platz in der Gertigstraße behauptet? Oder einfach mal McDonalds, Burger King oder einen Döner? Ist ja alles überall verfügbar.

Und richtig unübersichtlich wird es am Abend. Beginnt man den Abend kuschelig mit einer DVD daheim bei Chips und Gintonic, oder besucht man das Joy in Uhlenhorst, vollkommen zurecht meine Stammkneipe seit 1994? Und dann auf die Sternschanze ins Le Fonque oder in den Konsum, um anschließend im Grünen Jäger abzurocken? Vielleicht aber auch – ganz traditionell – der Kiez: Vielleicht ins Molotow und die Meanie-Bar auf der Reeperbahn oder Sorgenbrecher und Barbara-Bar auf dem Hamburger Berg. Oder man verbringt die Nacht auf einer Datscha-Party. Die Partys mit russischer, ost- und südost-europäischer Livemusik und exzellenten DJ’s sind momentan die extatischsten und tanzbarsten Abende in Hamburg.

Hamburgs Auswahl könnte einen Gastgeber wirklich überfordern. Eigentlich ist aber ja das Gegenteil richtig: man kann hier nichts falsch machen. Erstrecht nicht, wenn der Besuch aus der Ferne so sympathisch ist und gar nicht Hamburg, sondern er die Hauptrolle an diesem Wochenende spielen wird.

Seefahrtsgeschichte zum Anfassen

Ein Tag auf einem historischen Dampf-Eisbrecher zu verbringen, ist sicher schon für sehende Besucher etwas besonderes. Als blinder oder sehbehinderter Mensch die riesigen Kohleöfen und Dampfkessel anzufassen oder das Ohr an das 75 Jahre alte Sprachrohr des Kapitäns zu legen, das ist aber einmalig.

Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hat heute seine Mitglieder auf das Museumsschiff Stettin eingeladen. Für Menschen mit starken Sehproblemen ist es meist wichtig, Dinge in Ruhe und mit genügend Zeit ertasten zu können. Haptische Wahrnehmung, das Fühlen mit Händen, bedeutet, dass Gegenstände nacheinander erfasst werden und nicht mit einem Blick erschlossen sind. Im regulären Museumsbetrieb ist dies häufig nicht möglich. Daher versuchen wir immer wieder, Kunst, Geschichte und Wissenschaft für Hamburgs blinde und sehbehinderte Bürger erfahrbar zu machen. Wir fragen nach der Erlaubnis, Exponate ausnahmsweise berühren zu dürfen, bitten um gesonderte Führungen usw. Um so schöner ist es, wenn – wie im heutigen Fall – wir gar nicht bitten müssen, sondern ein Betreiber mit der Frage auf uns zukommt, ob wir nicht einen Veranstaltungstag für unsere Zielgruppe durchführen wollen.

Im Herbst habe ich – zusammen mit zwei Kolleginnen – den Test gemacht: Könnte so ein Tag für sehbehinderte und blinde Menschen interessant sein, wär das Ganze ohne große Unfälle realisierbar? Dr. Olaf Koglin, der Vorsitzende von Dampf-Eisbrecher Stettin e.V., führte mich die steilen Treppen hinauf und hinab, warnte mich vor niedrigen Eisenträgern und hohen Türschwellen. Er legte meine Hand auf die Hebel des Maschinentelegraphen oder drückte mir die schweren Eisenstangen in die Hand, mit denen die Asche aus den Öfen gekehrt wird. Er berichtete fundiert von der Geschichte des Schiffes, das von 1933 bis 1945 als Eisbrecher das Oder-Haff befahrbar hielt und mit dem Kriegsende – voll beladen mit Flüchtlingen – nach Kiel fuhr. Kooglin stellte uns das Engagement von Ehrenamtlern vor, die heutzutage als Heizer tonnenweise Kohle schaufeln, monatelang in winzigen Kajüten schlafen, zum Hamburger Hafengeburtstag, zur Kieler Woche oder zur Hansesail nach Rostock schippern, um ein historisch einzigartiges Schiff zu erhalten. Die Stettin ist das weltweit größte kohlebefeuerte, noch fahrfähige Dampfschiff. Für unseren heutigen Tag hatte der Jurist Koglin in Heimarbeit sogar ein Holzmodell der Stettin geschnitzt, damit unsere Mitglieder eine Vorstellung von Form und Aufbau des Schiffes gewinnen konnten. Für das tolle Engagement und für einen spannenden und lehrreichen Tag bedanke ich mich bei Dr. Koglin und seiner Crew im Namen von rund 50 begeisterten Besuchern, die heute ein Stück Seefahrtsgeschichte begreifen konnten.

Der Dampf-Eisbrecher Stettin kann im Museumshafen Oevelgönne besichtigt werden. Das Schiff ist für Veranstaltungen und Rundreisen buchbar.

Dampf-Eisbrecher Stettin: http://www.dampf-eisbrecher-stettin.de

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